Der gläserne Fluch. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Weltensucher
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783948093358
Скачать книгу
Blick wanderte von Oskar zum Sekretär. Als er seine Hand ausstreckte und mit den Fingern über das Schloss tastete, verließ Oskar der Mut. Er hatte etwas bemerkt. Er musste etwas bemerkt haben.

      »Hat dir der Abend gefallen?«

      »Was …? Oh ja. Sehr.«

      »Deine Cousine ist ein zauberhaftes Mädchen. Ich bin sicher, sie vermisst dich. Du solltest zu ihr gehen.«

      »Ja, Sie haben sicher recht.« Oskar schluckte. Dieses Gespräch war irgendwie eigenartig.

      »Dann beeil dich. Und gutes neues Jahr, mein Junge.«

      »Das wünsche ich Ihnen auch. Von ganzem Herzen. Ihnen und Ihrer Frau.«

      Bellheim nickte und wandte sich dann wieder dem Fenster zu.

      Das war’s. Keine Beschuldigung, kein Vorwurf. Oskar trat einen Schritt zurück. »Und bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach unerlaubt Ihr Arbeitszimmer betreten habe.«

      »Macht doch nichts, mein Junge. Jetzt geh und richte den anderen einen schönen Gruß aus. Ich werde oben bleiben und mir von hier aus alles ansehen. Ist gemütlicher.« Er lächelte.

      Oskar spürte, wie die Last von seinen Schultern fiel. Sein Einbruchsversuch war offenbar unbemerkt geblieben.

      »Gern«, sagte er in leichtem Plauderton. »Oh, und alles Gute für Ihre Vortragsreise. Ich bin schon gespannt zu erfahren, was es mit dem Meteoriten auf sich hat.«

      Er biss sich auf die Lippen. Eigentlich durfte er das gar nicht wissen. Die Worte waren aus seinem Mund geschlüpft. Einfach so.

      Der Völkerkundler drehte sich um. Langsam. Als befände er sich in einem Glas mit Honig. In seinen Augen lag ein grünlicher Schimmer.

      »Sagtest du gerade Meteorit, mein Junge?«

      12

      Charlotte konnte ihre Enttäuschung nicht länger verbergen. Oskar war nicht gekommen. Der magische Moment war vergangen und er hatte sie einfach allein stehen lassen. Und dann noch dieser Kommentar ihres Onkels. Hegte er allen Ernstes den Verdacht, sie habe sich in Oskar verliebt?

      Lächerlich.

      In ihr tobte eine Mischung aus Enttäuschung und Sorge. Was war nur mit dem Kerl los? Manchmal verstand sie ihn einfach nicht. War es wirklich zu viel verlangt, dass er wenigstens an diesem besonderen Moment pünktlich erschien? Oskar war notorisch unzuverlässig, aber jetzt hatte er das Maß überschritten.

      Andererseits: Was, wenn es ihm nicht gut ging? Vielleicht sollte sie mal nach ihm sehen.

      Sie wollte gerade zurückgehen, als sie eine feste Hand auf ihrer Schulter spürte. »Nein, nicht.«

      Es war Humboldt. Sein Gesicht wirkte ernst. »Lass es bleiben.«

      Er schien genau zu wissen, was mit Oskar los war.

      »Und wenn es ihm schlecht geht? Vielleicht ist ihm übel geworden oder er …«

      »Es geht ihm gut.«

      »Woher weißt du das?«

      »Weil ich es weiß.«

      Sie hob die Brauen. »Willst du es mir verraten?«

      »Er ist in meinem Auftrag unterwegs.«

      Charlotte brauchte einige Sekunden, um sich über die Bedeutung der Worte klar zu werden. »In deinem Auftrag?« Sie zögerte. »Heißt das … Oh nein. Du hast ihn doch nicht zu irgendwelchen krummen Sachen angestiftet?«

      »Es dient einem guten Zweck«, sagte der Forscher. »Er soll für mich etwas suchen. Etwas Privates. Etwas, das nur er in dieser kurzen Zeit finden kann.«

      »Und wenn er erwischt wird?«

      Humboldt blieb die Antwort schuldig.

      Charlotte spürte, wie frostige Finger ihr Herz umklammerten.

      * * *

      »Woher weißt du von dem Meteoriten?« Bellheims Stimme hatte die Härte einer Diamantklinge. Oskar wollte etwas antworten, doch er konnte nicht. Seine Stimme war wie zugeschnürt. Bellheim kam näher. Plötzlich hielt er inne. Ein Ausdruck der Verblüffung huschte über sein Gesicht. Er drehte sich zum Sekretär, starrte einige Sekunden darauf, dann richtete er seine Augen wieder auf Oskar. »Verstehe«, sagte er. »Mein Tagebuch.«

      Oskar wich langsam zurück. »Es … es ist nicht so, wie Sie denken.«

      »Oh doch. Ich fürchte, es ist genau so. Pech für dich, mein Junge …« Der Satz brach ab.

      Ganz unvermutet.

      Bellheim stand in der Mitte des Raums. Stocksteif wie ein Holzpfahl hielt er sein Gesicht zur Decke gerichtet, die Hände zu Fäusten geballt. Die Knöchel traten weiß hervor. Zwischen den zusammengepressten Zähnen kam ein unartikuliertes Zischen hervor. Oskar bekam es mit der Angst zu tun. Hier stimmte etwas nicht. Hatte er einen Krampf oder Anfall?

      Er wollte gerade zur Tür rennen, als eine Veränderung mit Bellheim vonstatten ging. Sein Oberkörper zuckte nach vorn, krümmte sich und schnellte dann wieder zurück. Das Gesicht des Völkerkundlers war aufs Äußerste angespannt. Er öffnete seinen Mund zu einem Schrei, aber es kam kein Laut heraus.

      Mit Entsetzen sah Oskar, wie der Forscher nach Luft rang. Ein merkwürdiges Rascheln und Knacken war zu hören, als würde irgendwo etwas verbrennen. Die Luft war erfüllt vom Geruch elektrischer Entladungen. Dann riss der Forscher seinen Mund noch weiter auf. Seine Hände umklammerten seinen Unterkiefer und zogen ihn nach unten. So weit, wie kein normaler Mensch es jemals vermocht hätte.

      Oskar war wie gelähmt. Dann schrie er.

      * * *

      Charlotte hörte den Schrei. Alle hörten ihn.

      Es war ein Laut, wie ihn nur jemand ausstoßen konnte, der in größter Panik war.

      Die Gespräche erstarben. Irgendwo fiel klirrend ein Glas zu Boden. Alle Blicke zuckten in Richtung Haus.

      Hinter der Scheibe im ersten Stock waren tanzende Bewegungen zu sehen. Zwei Personen, die miteinander kämpften.

      Humboldt war der Erste, der reagierte.

      »Oskar!«

      Er packte seinen Gehstock und stürmte durch den Garten zurück in Richtung Haus. Charlotte und Eliza folgten ihm auf dem Fuß. Zu dritt rannten sie die Treppen zum ersten Stock empor. Noch einmal rief er den Namen des Jungen. Keine Antwort. Alles, was sie hörten, war ein Poltern, das aus dem letzten Zimmer am Ende des Flurs drang. Sie eilten in die betreffende Richtung, doch die Tür war verschlossen. Humboldt erhob seine Stimme. »Mach die Tür auf!«

      »Ich … kann … nicht.«

      Oskars Stimme.

      Humboldt fackelte nicht lange. Mit einem vehementen Fußtritt trat er die Tür ein und stürmte in den Raum.

      Charlotte folgte ihm.

      Der Völkerkundler hatte seine Hände um den Hals des Jungen gelegt. Dessen Füße berührten kaum noch den Boden. Oskar wand sich und zappelte, aber er konnte dem mörderischen Griff nicht entfliehen. Welche Kraft war wohl dazu nötig, einen sechzehn Jahre alten Jungen mit gestreckten Armen vom Boden zu heben?

      Eliza hielt ein Feuerzeug an die Lampe. Es gab einen Funken, dann entzündete sich das Gas.

      »Beim Jupiter!«

      Humboldt wich einen Schritt zurück.

      Charlotte schlug die Hände vor den Mund. Eliza stieß einen kleinen Schrei aus.

      Was sich im fahlen Schein der Gaslaterne abspielte, war mit Worten kaum zu beschreiben. Bellheims Unterkiefer war heruntergeklappt und hatte etwas freigelegt, das nur mit viel Wohlwollen als Zunge beschrieben werden konnte. Dick wie ein Unterarm und lang wie eine Schlange züngelte das Ding genau auf Oskars Gesicht zu. Es glänzte und glitzerte, als