Der gläserne Fluch. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Weltensucher
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783948093358
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Gesellschaft vollständig ist, gibt es keinen Grund, noch länger auf dem Trockenen zu sitzen. Berthold, haben alle Gäste etwas zu trinken? Schön. Dann wollen wir unser Glas erheben. Ich möchte Sie bitten, auf meinen Mann anzustoßen, der nach langer und beschwerlicher Reise endlich wieder zu mir zurückgekehrt ist.« Sie deutete auf einen Mann, der in einem Lehnstuhl ganz nah am flackernden Kaminfeuer saß. Er war groß, mager und ernst. Ein paar Leute standen um ihn herum und versuchten, eine Unterhaltung mit ihm zu führen. Doch der Mann schien irgendwie nicht bei der Sache zu sein. Fahrig wanderten seine Augen umher, als wären sie auf der Suche nach irgendetwas. Außerdem schien es, dass er trotz der enormen Temperaturen, die dort herrschten, fror. Er war blass und zitterte leicht. Oskar ließ sich von dem Diener zwei Gläser einschenken und ging damit zu Charlotte hinüber. »Ich habe einen Fruchtsaft für dich. Möchtest du?«

      Seine Cousine schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Oh, wie galant«, sagte sie, den Tonfall von Frau Bellheim imitierend. Sie nahm das Glas. »Und so gut aussehend.«

      »Lass doch den Unsinn.« Oskar spürte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Du weißt genau, dass das nicht stimmt.«

      »Sei doch nicht so empfindlich.« Sie lächelte. »Ich habe das durchaus ernst gemeint. Ich finde, du machst wirklich eine gute Figur.«

      Oskar nippte an seinem Saft und ließ seinen Blick schweifen. Als er bei Bellheim ankam, hielt er inne. Irgendetwas war seltsam an dem Mann. Ehe er noch dahinterkam, was es war, trat Charlotte an ihn heran und flüsterte: »Eigenartig, nicht wahr? Sieh nur, wie alle Gäste sich um ihn bemühen. Dabei macht er nicht den Eindruck, als würde er einen von ihnen kennen.«

      »Hat Humboldt nicht gesagt, heute seien nur die engsten Freunde geladen?«

      »Doch, und das macht die Sache noch merkwürdiger. Du hättest es erleben sollen. Er hat Humboldt behandelt wie einen Fremden.«

      »Vielleicht ist er nur erschöpft von seiner langen Reise. Ich erinnere mich, dass es mir genauso ging, als wir von unserer letzten Reise zurückkamen.«

      Charlotte schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Er ist schließlich schon wieder eine ganze Weile hier. Ich tippe auf ein seelisches Problem.«

      »Und was genau?«

      Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber was es auch ist, an Frau Bellheims Stelle würde ich mir ziemliche Sorgen machen. Apropos: Hast du eine Ahnung, ob sich bei Menschen manchmal die Augenfarbe ändert? Also ich meine bei erwachsenen Menschen. Bei Säuglingen ist ja bekannt, dass ihre Augen anfangs alle hellblau sind.«

      Oskar runzelte die Stirn. »Was für eine seltsame Frage. Und wie kommst du darauf, dass gerade ich so etwas weiß?«

      Charlotte nahm einen Schluck aus ihrem Glas, dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist doch viel rumgekommen und hast sicher einige seltsame Dinge erlebt«

      »Aber so etwas noch nie. Klingt irgendwie gruselig.«

      Charlotte nickte. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber in diesem Augenblick erschien die Köchin, in ihrer Hand ein Glöckchen. Ein zartes Klingeln ertönte.

      »Meine Damen und Herren, wenn ich Sie ins Esszimmer bitten dürfte. Es ist angerichtet.«

      9

      Die Tafel war festlich eingedeckt. Wertvolles Porzellan, Silberbesteck und kristallene Gläser schimmerten im Licht unzähliger Kerzenständer. Die Stoffservietten waren zu kleinen Tieren gefaltet. Jeder Platz war mit einer Tischkarte dekoriert worden, auf der ein Name stand.

      Mit besorgtem Blick stellte Oskar fest, dass er zwischen zwei Leute saß, die er nicht kannte. Den anderen erging es nicht besser. Sie alle waren zwischen den anderen Gästen verteilt worden und saßen obendrein ein ganzes Stück von ihm entfernt. Vermutlich, damit man sich schneller kennenlernte. Ehe er protestieren konnte, erhob Frau Bellheim ihr Glas.

      »Meine lieben Freunde, verehrte Gäste. Ich möchte Sie ganz herzlich zu unserem Silvesterempfang begrüßen. Danke, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und den Jahreswechsel mit mir und meinem Mann verbringen. Bitte wundern Sie sich nicht, dass ich alle ein wenig auseinandergesetzt habe, das geschah mit voller Absicht. Ich würde mir wünschen, dass wir alle miteinander bekannt werden und als gute Freunde ins neue Jahr gehen. Herzlich willkommen in unserem Hause!«

      Alle hoben ihre Gläser und prosteten einander zu.

      Richard Bellheim saß am Kopfende des Tisches, direkt neben seiner Frau. Er machte den Eindruck, als wisse er überhaupt nicht, wo er war. Als seine Frau ihm etwas ins Ohr flüsterte, stand er steif und langsam auf und blickte in die Runde.

      »Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gertrud.« Seine Stimme klang dünn und kraftlos. »Ich bin gerührt über die Ehre, bei diesem Tisch den Vorsitz führen zu dürfen, auch wenn ich diese Aufgabe nur eingeschränkt erfüllen kann.« Er zögerte. »Manch einem mag aufgefallen sein, dass ich mich in letzter Zeit etwas verändert habe. Nicht zum Guten, wie ich leider zugeben muss. Meine Ärzte meinen, es wäre nur ein vorübergehender Erschöpfungszustand und dass ich mir keine Sorgen machen solle. Ich hoffe, sie haben recht. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass mir die Situation sehr unangenehm ist. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich bei dem einen oder anderen der hier Anwesenden Erinnerungsprobleme habe. Ich möchte mich aber jetzt schon ganz herzlich bedanken, dass Sie einem zerstreuten Professor Gesellschaft leisten wollen.«

      Die Gäste hoben die Gläser und prosteten dem Völkerkundler zu. »Hört, hört!«

      Oskar blickte in Humboldts Richtung. Der Forscher beobachtete Bellheim mit kritischem Blick. Mochte der Himmel wissen, was gerade in seinem Kopf vorging. Dann folgte das Festmahl, das Oskars volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Als Vorspeise gab es Wachtelbrüstchen in Portsoße, anschließend folgte der traditionelle Silvesterkarpfen und zum Nachtisch gab es Burgunderpflaumen mit Vanilleeis. Dazwischen wurden verschiedene Weine gereicht und wer wollte, bekam ein Bier. Die Unterhaltung verlief angenehm und entspannt. Es wurde gegessen, geplaudert und angestoßen, und eine Weile ging alles gut. Doch es kam der Moment, vor dem Humboldt sie vor ihrer Abfahrt gewarnt hatte. Er trat in Form eines dicklichen Mannes mit Backenbart in Erscheinung, dessen Glatze im Schein der Kerzen rosa glänzte. Er hatte schon eine ganze Weile dem Wein zugesprochen und befand sich in einem Zustand, den man nur als schwer alkoholisiert bezeichnen konnte. Oskar kannte die Symptome: glänzende Augen, gerötete Wangen, großporige Nase, feuchte Unterlippe. Der Mann war gerade bei seinem sechsten oder siebten Glas angelangt, als er sich über den Tisch beugte und weithin hörbar sagte: »Ich hörte, Sie sind jetzt in der Dienstleistungsbranche, Herr Donhauser?« Schon wie er den Namen aussprach, zeugte von tiefer Geringschätzung.

      An den Plätzen wurde es schlagartig ruhig. Wie es schien, hatten alle auf diesen Augenblick gewartet.

      Humboldt unterbrach das Gespräch mit seiner Tischnachbarin und drehte den Kopf. Um seinen Mund spielte ein dünnes Haifischlächeln. »Ich fürchte, da sind Sie falsch informiert, Dekan Wallenberg.«

      »So?«

      »Ganz recht. Mein Name ist von Humboldt. Schon seit einer ganzen Weile. Alexander war mein Vater, aber vielleicht haben Sie das nicht mitbekommen. Die mathematische Fakultät war schon immer ein wenig langsam.«

      Vereinzelt erklang Gelächter.

      Wallenbergs gerötete Wangen wurden eine Spur dunkler.

      »Ich habe so etwas läuten hören«, erwiderte er mit Blick auf seine perfekt manikürten Hände. »Ich konnte nur nicht glauben, dass der alte Knabe mit achtzig noch ein gesundes Kind gezeugt haben soll.« Er kippte den letzten Rest Wein in seinen Schlund und ließ sich nachschenken. »Aber Alexander von Humboldt war eben ein großer Mann.«

      Oskar hielt den Atem an. Wallenberg schien nicht zu wissen, in welcher Gefahr er sich befand.

      Doch Humboldt blieb erstaunlich ruhig. Immer noch lächelnd sagte er: »Das war er in der Tat. Gegen ihn sind wir nur Eintagsfliegen. Und was Ihre Frage betrifft: Ja, ich biete meine Dienstleistungen Firmen oder Privatpersonen an, wenn diese ein ungewöhnliches Problem haben. Zwei Fälle konnten wir schon