Das poetische Theater der Nachkriegszeit knüpft an die beiden Ausprägungen des surrealistischen Theaters an. Es wird hier exemplarisch am Beispiel der drei Theaterpoeten René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé untersucht. Es wird dabei nicht von einem fertigen Theaterpoesiebegriff ausgegangen, vielmehr soll die Definition von Theaterpoesie im Laufe der Untersuchung erst herausgearbeitet werden. Die Auswahl der drei Theaterpoeten sowie der hier untersuchten Stücke lässt sich wie folgt begründen.
Als wohl kommerziell erfolgreichster unter den Theaterpoeten der Nachkriegszeit steht René de Obaldia, dessen Stücke bis heute regelmäßig gespielt werden (im Dictionnaire de la Littérature française XXe siècle heißt es sogar, Obaldia sei „l’un des auteurs de théâtre les plus joués dans le monde entier“2), für die Popularisierung des Surrealismus am Theater. Obaldia interessiert sich nicht für Theorien oder die Revolutionierung der Institution Theater. Er will das Theater durch einen surrealistischen Sprachgebrauch wieder auf seine Essenz zurückführen: das Wort. Damit fügt er sich in die literarische Tradition des surrealistischen Theaters ein, auch wenn sein Sprachtheater dank seiner fast schon intuitiven Einhaltung dramatischer Grundregeln weit von der undramatischen Bühnenpoesie der Surrealisten entfernt ist. Bei Obaldia vollzieht sich eine Dramatisierung der surrealistischen Sprache und Inhalte sowie eine Rationalisierung surrealistischer Ideen.
Obaldias Theater wird am Beispiel von Genousie untersucht. Dieses im Jahr 1960 uraufgeführte Stück gilt als Obaldias erstes wichtiges Theaterwerk und wurde von der Kritik – zusammen mit den Impromptus à loisir – noch zum Avantgardetheater gezählt. Nach dem großen Erfolg von Du vent dans les branches de sassafras wurde Obaldia eher als Boulevardautor wahrgenommen. Genousie ist ein wichtiges Beispiel für ein surrealistisch inspiriertes poetisches Theater der Nachkriegszeit. Auch wenn Obaldia eine direkte Beeinflussung seines Werks durch den Surrealismus leugnet, zeichnen sich Verbindungslinien ab: Einbruch des Wunderbaren ins Alltägliche, Verhöhnung der intellektuellen Bourgeoisie, Spiel-im-Spiel-Elemente, Performativität der Sprache und eine heimliche Korrespondenz zwischen Realität und Traumwirklichkeit.
Romain Weingarten ist in dieser Diskussion deshalb wichtig, weil er zeigt, dass sich die Theateravantgarde nach dem Krieg kritisch mit dem Surrealismus auseinandersetzte und zwischen verschiedenen „Surrealismen“ unterschied. So interessiert sich Weingarten weniger für die Literarizität und Wissenschaftlichkeit des Bretonschen Surrealismus, sondern für die Körperlichkeit und Viszeralität Artauds und Vitracs, womit er an die dramatische Tradition des surrealistischen Theaters anknüpft. Während Obaldia und Schehadé keine Anstalten machten, das Theater zu erneuern, zeugt Weingartens Beschäftigung mit Artauds Schriften von einem echten theoretischen Interesse, dem Wunsch nach einer grundlegenden Erneuerung des Theaters und der Suche nach einer neuen Theatersprache. Dass er, ähnlich wie Artaud, in der Praxis nie erreichte, was er in der Theorie anstrebte, ist dabei zweitrangig: sein Theater hat Experimentcharakter und antizipiert bereits das postdramatische Theater, in dem der Text zugunsten nicht-verbaler Bühnenmittel in den Hintergrund tritt.
Weingartens Theater wird am Beispiel des 1948 aufgeführten Akara näher untersucht. Akara gilt als erstes Avantgardestück der Nachkriegszeit, der Autor selbst hat es als das letzte surrealistische Stück überhaupt bezeichnet. Einflüsse des Artaudschen und Vitracschen Theaters – Weingarten stand zu dieser Zeit vor allem unter dem Eindruck von Victor ou les enfants au pouvoir – sind in Akara besonders präsent. Die Aufführung machte Furore, Audiberti bezeichnete das Stück als „Hernani 48“. Mit seiner viszeralen Qualität, der Quasi-Absenz dramatischer Kategorien wie Handlung und Figurenentwicklung, der Gleichberechtigung verbaler und nicht-verbaler Bühnenmittel, dem Einsatz von Masken und dem Bestreben, nicht die objektiv wahrnehmbare Realität abzubilden, sondern die universalen Kräfte zwischen Menschen und Dingen, steht Akara in einer avantgardistischen Tradition. Im Gegensatz zu Obaldia, der sein Publikum auch auf intellektueller Ebene erreichen will, zielt Weingartens Theater vor allem auf die affektive Welt des Zuschauers, weshalb es oft schwer lesbar, unverständlich und rätselhaft wirkt. Auch deshalb hat sein Theater – abgesehen von dem großen Erfolg L’Eté – nie die öffentliche Anerkennung erlangt, die ihm eigentlich gebührt.
Georges Schehadé stand nach dem Krieg mit den Pariser Surrealisten in Kontakt, und Breton bezeichnete dessen erstes offizielles Stück Monsieur Bob’le in den Entretiens als „intégralement surréalist[e]“3. Diese Absegnung von Schehadés Theater als surrealistisch durch den Papst des Surrealismus persönlich ist schon Grund genug, dem libanesischen Theaterpoeten in einer Diskussion über das surrealistische Theater der Nachkriegszeit besondere Aufmerksamkeit einzuräumen. Schehadés Theater steht, wie das Obaldias, in der literarischen Tradition des surrealistischen Theaters, denn hier nimmt die poetische Sprache das Primat ein. Seine Stücke haben in der französischen Presse passionierte Debatten rund um die Vereinbarkeit von Poesie und Bühne entfacht. Die Symbiose der beiden Bereiche war bei einem Großteil der surrealistischen Theaterarbeiten ausgeblieben und wurde zum Teil auch Schehadés Theater abgesprochen. Welche minimalen Kriterien muss ein poetisches Theaterstück erfüllen, damit es auch als Theater – und nicht einfach als ein vor Publikum vorgetragenes Gedicht – wahrgenommen wird? An Schehadés Theater zeigt sich zudem eine Entwicklung, die für die gesamte Theateravantgarde der Nachkriegszeit von Bedeutung wurde: die Beziehung der Theaterschaffenden zur Öffentlichkeit, d.h. zu Publikum und Kritikern. Dieser Aspekt war für die historische Avantgarde, die innerhalb eines Netzwerks aus eigenen Zeitschriften und Verlagen operierte und die ihre Stücke zum Teil in Eigenregie auf die Bühne brachte und deshalb ein höheres Maß an künstlerischer Freiheit genoss, noch weitgehend irrelevant gewesen. Für die professionalisierte Theateravantgarde nach 1945 war das dramatische Schaffen nun auch an finanzielle Zwänge gebunden. Gerade Schehadé, der den Großteil seiner wichtigsten Schaffensperiode außerhalb der französischen Hauptstadt verbracht hatte, war auf seine Pariser Freunde angewiesen, die gleichzeitig als Kritiker, Berater und Mittelsmänner fungierten. Die Frage nach der Verantwortung der Kritik gegenüber einem aus kommerzieller Sicht fragilen poetischen Theater und gegenüber Autoren, die autonom arbeiteten und nicht mehr vom Rückhalt einer geschlossenen Gruppe profitierten, drängt sich hier auf.
Schehadés Theater soll am Beispiel des erstmals im Jahr 1951 aufgeführten Stücks Monsieur Bob’le näher untersucht werden, denn hier konnte sich die Poesie des Autors noch ungefiltert niederschlagen. Nicht umsonst schrieb Schehadé an Guy Dumur: „M. Bob’le est un texte de poësie“4. Außerdem wurde Monsieur Bob’le von Georges Vitaly inszeniert, der zuvor bereits Stücke Audibertis und Pichettes auf die Bühne gebracht und „une réconciliation du théâtre et de la poésie, pour servir ce 'théâtre de verbe' qui doit effectivement avoir sa place à côté du 'théâtre d’action'“5 angestrebt hatte. Im Laufe seines dramatischen Schaffens ist Schehadés écriture dramatique zunehmend konventioneller und insgesamt dramatischer geworden. Seine späteren Stücke waren mehr auf Publikumserfolg ausgerichtet und hatten an Poesie verloren zugunsten einer größeren Dramatizität. Monsieur Bob’le weist dagegen noch eine erfrischende Unbekümmertheit bezüglich seiner Publikumswirksamkeit auf. An den unterschiedlichen Reaktionen auf Monsieur Bob’le zeigt sich, ob und