Mit dem Terminus ἀποτύπωσις greift Ps.-Longinus die Analogie von bildender Kunst und Rede, von der schon Dionysios bei seinem Zeuxisvergleich ausgegangen ist, auf. Doch ist hier am Beispiel des prototypischen Nachahmers Platon die Vorstellung zu einem anspruchsvollen Inspirationsmodell erweitert, das den psychologischen Prozess der künstlerischen Anregung mit der Begeisterung die Pythia durch die delphischen Dämpfe gleichsetzt. Ps.-Longinus erklärt den durch die Lektüre bewirkten ἐνθουσιασμός davon ausgehend in analoger Weise: οὕτως ἀπὸ τῆς τῶν ἀρχαίων μεγαλοφυΐας εἰς τὰς τῶν ζηλούντων ἐκείνους ψυχὰς ὡς ἀπὸ ἱερῶν στομίων ἀπόρροιαί τινες φέρονται.21
Im Vergleich mit Dionysios wird deutlich, dass Ps.-Longinus das Nachahmungskonzept um den Aspekt des Wettkampfes mit dem Vorbild erweitert. Zwar differenziert auch Dionysios ζῆλος und μίμησις22, indem er mit dem ersten Begriff einen psychischen Vorgang meint, unter μίμησις aber eine Nachbildung auf der Basis genauer Beobachtung versteht, doch ist das Erreichen des Vorbilds oder gar ein Wettstreit im Sinne einer aemulatio seiner streng klassizistischen Konzeption nach eigentlich ausgeschlossen.23 Schon Isokrates hatte eingeräumt, dass man über dieselben Themen sprechen dürfe, die schon frühere Autoren behandelt haben – wenn man es mit der Absicht tut, sie zu übertreffen! –, doch konnte er diese Aussage ohne die Voraussetzung des strengen Kanonbegriffs und des triadischen Geschichtsverständnisses, wie es für Dionysios Gültigkeit besitzt, tun.24 Für Dionysios kann das Ziel der Nachahmung nur die maximal mögliche Annäherung an das Vorbild sein. Ps.-Longinus dagegen erweitert die Vorstellung zur selbstbewussten Auseinandersetzung – in seinem Beispiel Platons mit Homer.
Der offen geforderte Anschluss an die besten Autoren der Vergangenheit ist ein Aspekt, der die Klassizisten – vielleicht weniger in der Dichtungs- bzw. Redepraxis als auf theoretisch-programmatischer Ebene – von den poetologischen Stellungnahmen früherer hellenistischer Dichter abhebt. Dass sich daraus eine Bedeutungsverschiebung des Plagiatsbegriffs ergeben musste, ist nur folgerichtig: Wenn ein Autor gegen einen kanonischen Autor vor einem wie bei Ps.-Longinus imaginierten „Publikum aller Zeiten“25 antritt, so geht er davon aus, dass die Vorbilder identifiziert werden können – sonst hätte der Wettkampfgedanke keinen Sinn. Nachahmung ist darauf angelegt, als solche erkannt zu werden. Die Täuschungsabsicht, die mit den Begriffen furtum bzw. κλοπή sonst immer auch bezeichnet ist26, musste vor dem Hintergrund des emphatischen klassizistischen imitatio-Begriffs gerade in ihr Gegenteil verkehrt werden: Wer sich durch entsprechende Lektüretechniken und psychologische Annäherungsprozesse so sehr in die klassische Zeit hineinversetzt, dass er nicht mehr nur die Worte, sondern ganz in der Art etwa eines Demosthenes sprechen konnte, bei dem war im Idealfall kaum mehr zu entscheiden, ob es sich nun um authentisch-wörtliche oder gut erfundene stilistische Anleihen handelt. Der neue Akzent, den der Plagiatsbegriff bei den römischen Klassizisten erhält, liegt demnach darin, dass mit κλοπή oder furtum eine ästhetisch mangelhafte Verwendung fremden Guts bezeichnet werden kann, ohne dass damit aber eine Abwertung der literarischen Anleihe als solcher verbunden wäre. Nur durch intensive, mit Anstrengung und Methode erreichte Vertrautheit mit dem Modell lässt sich ein neues Werk als einheitliches Ganzes schaffen; ist diese enge Vertrautheit nicht gegeben, so wirken die entlehnten Versatzstücke auf den Leser wie die sprichwörtlichen gestohlenen Federn, die Horaz an Albinovanus Celsus tadelt. Die nötige Anstrengung kann wie bei Ps.-Longinus im Bild des Wettkampfes mit dem Vorbild oder wie bei Horaz in Analogie zum Fleiß der Bienen ausgedrückt werden, wobei im einen Fall das neue Selbstbewusstsein in der Auseinandersetzung mit den Alten zum Ausdruck kommt, im anderen die Neubewertung künstlerischer Originalität, die in der gelungenen Mischung verschiedener Vorbilder zu einem einheitlichen, neuen Ganzen besteht.
Wendet man das bisher Ausgeführte auf die Vergilanekdote an, wie sie bei Sueton bzw. Asconius Pedianus und bei Macrobius überliefert ist, so ergibt sich ein stimmiges Bild: Wenn Vergil sagt, es sei leichter, Homer einen Vers als dem Herkules die Keule heimlich zu entreißen, so dass er – gemeint ist Homer bzw. Herkules, gedacht ist aber auch an den Leser – davon nichts merkt, so wertet er den Täuschungsvorwurf um, indem er auf die Schwierigkeiten hinweist, den „gestohlenen“ Vers so zu verwenden, dass er sich organisch ins Werk einfügt und seine Einheitlichkeit nicht stört. Man möge die Anleihe also in dem Sinne „nicht bemerken“, dass man keine Brüche und Uneinheitlichkeiten entdeckt – die künstlerische Leistung soll man aber wohl wahrnehmen und schätzen. Zum anderen betont der bei Macrobius (s.o.) überlieferte erklärende Nachsatz die persönlichen Qualitäten des Dichters, die für eine gelungene Nachahmung notwendig sind. Der Imitator (= Vergil) muss demnach vergleichbare Qualitäten wie der Autor des Vorbildtextes (= Homer) unter Beweis stellen, so wie der, der Jupiter den Blitz oder Herkules die Keule stiehlt, auch über die Kraft verfügen muss, Blitz und Keule einzusetzen. Zwar geht Vergil in der Anekdote nicht soweit, hinsichtlich seiner persönlichen Qualitäten im Sinne einer aemulatio Überlegenheit über Homer zu beanspruchen, doch lässt sich der Wettkampfaspekt aus der behaupteten qualitativen Äquivalenz mit dem kanonischen Vorbild immerhin ableiten.
Die Plagiatsthematik war unter Augustus und Tiberius zu einem bestimmenden Diskurs der Literaturkritik geworden. Sie stellt gewissermaßen die Kehrseite der von den Klassizisten um Dionysios vorangetriebenen Theoretisierung der μίμησις bzw. imitatio dar. Damit war allerdings, wie Horaz und Ps.-Longinus zeigen, eine Neuakzentuierung des Begriffs verbunden: Wenn man die imitatio explizit zum Programm der Dichter und Redner erhob, konnte man sprachliche Übernahmen aus den mittlerweile kanonisch gewordenen Autoren kaum mehr nach Art der frühen Komödiendichter als Verstoß gegen ein wie auch immer aufgefasstes Urheberrecht betrachten. Stattdessen war die imitatio dann schlecht realisiert, wenn man sich wie Albinovanus Celsus zwar aus Ruhmsucht der alten Dichter bediente, dem entlehnten Material künstlerisch aber nicht Herr werden konnte. Wer ungeschickt entlehnte, machte sich des Diebstahls schuldig – die geglückte Verwendung des übernommenen Gutes sicherte dem Imitator auch das Besitzrecht.27 Dieser theoretisch fundierte Anspruch scheint sich auch in der philologischen Literatur über loci similes niedergeschlagen zu haben, die – wie gezeigt – die schon immer geübte Praxis literarischer Bezugnahmen gerade jetzt nicht mehr nur in Form tendenzloser Parallelensammlungen, sondern unter dem Kampfbegriff des Plagiats reflektieren. Auch wenn wir über diese Werke wenig mehr als das, was ihre Titel preisgeben, aussagen können, so spricht aus ihnen doch ein chronologisch auf die Prinzipats- bzw. frühe Kaiserzeit eingrenzbares gesteigertes Interesse an Fragen der gelungenen Nachahmung, dessen Ursprung bei den römischen Klassizisten um Dionysios von Halikarnassos recht wahrscheinlich ist.28 Vergils Werk wäre demnach im Laufe der ersten Hälfte des 1. Jhdt. n. Chr. zu einem wichtigen Gegenstand für die Theoretiker der μίμησις bzw. imitatio avanciert. Seine Leistung wurde anfangs kontrovers beurteilt; spätestens in der Mitte des Jahrhunderts war sein Ruf als Homernachahmer aber soweit gefestigt, dass Plinius schon auf die Vergiliana virtus als Schlagwort für den siegreichen Wettstreit mit einem Vorbildautor in der Vorrede zur Naturalis historia Bezug nehmen konnte.29Plinius d.Ä.nat. praef. 22
2.3 Zusammenfassung
Der von Sueton wohl aus der Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus übernommene Katalog von Vergilkritikern erweist sich in beinahe allen Stücken als eine nach Sparten geordnete Adaption der entsprechenden Phänomene aus der Homerrezeption: Parodien wie die des Numitorius konnten dabei mit Bezug auf die rhapsodischen Epenparodien als ein Analogon nicht nur zum parodistischen Umgang mit Literatur bei den Griechen überhaupt, sondern im Besonderen mit den Epen Homers interpretiert werden. Auch die Aeneidomastix des Carvilius Pictor besetzt mit ihren – wahrscheinlich auch methodischen – Bezügen ein Kritikfeld, das über den prototypischen Kritiker Zoilos von Amphipolis speziell mit Homer verbunden ist, wofür nicht nur der Titel dieser Schrift, sondern auch eine