Doch stellt sich auch dann wieder die Frage, wie sich der von Sueton behauptete direkte Bezug zur Homerkritik herstellen lässt. Dass sich die alexandrinischen Grammatiker auf die Kriterien der Sprachrichtigkeit bei der Diorthose des Homertextes berufen konnten, lässt sich aus den überlieferten Aristarchfragmenten ersehen.55 Doch schon die Sophisten hatten die ὀρθοέπεια, den richtigen Wortgebrauch, in den homerischen Gedichten thematisiert und in Frage gestellt.56 Auch Spezialschriften zu diesem Thema wurden verfasst: Immerhin ist schon für Demokrit eine Schrift mit dem Titel περὶ Ὁμήρου [ἢ] ὀρθοεπείης καὶ γλώσσεων überliefert, in der Homer für seine sprachlichen Besonderheiten in Schutz genommen wurde.57 Auch erklärte Homerkritiker wie Zoilos hatten sprachliche Beanstandungen in ihre Schriften aufgenommen.58 Herennius konnte, wenn er sich tatsächlich auf sprachliche vitia Vergils konzentrierte, demnach mit einem gewissen Recht für eine bestimmte Richtung der Homerkritik in Anspruch genommen werden, wenn seine Methoden auch wohl aus jüngerer Zeit stammten und ganz der im 1. Jhdt. erst zu einem Teilbereich des τεχνικὸν μέρος der Grammatik ausgebauten Lehre von der Sprachrichtigkeit verpflichtet gewesen sein dürften.
2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil
2.2.1 Philologische Spezialschriften περὶ κλοπῆς
Kein direktes Vorbild aus der Homerkritik lässt sich aber für die mit den Titeln furta und Ὁμοιότητες überschriebenen Sammlungen des Perellius Faustus bzw. Quintus Octavius Avitus ausmachen. Der Inhalt der acht Bücher umfassenden Schrift des Avitus1, aber auch der furta des Perellius Faustus, ergibt sich aus Suetons erklärendem Zusatz quos et unde versus transtulerit (VSD 45). Wie ordnen sich aber diese Schriften, deren Titel einmal eine polemische Stoßrichtung (furta), einmal eine neutrale Wertung der Parallelen als „Ähnlichkeiten“ (Ὁμοιότητες) erkennen lassen, in die philologisch-kritische Tradition ein? Um diese Frage zu beantworten, sind zunächst die antiken Nachrichten über philologische Plagiatsliteratur unter den besonderen Aspekten von Chronologie und Tendenz erneut zu prüfen.2
Hauptquelle für unsere Kenntnis über die griechischen Spezialabhandlungen zum Plagiat ist ein Abschnitt aus der Φιλόλογος ἀκρόασις des Neuplatonikers Porphyrios3, den uns Eusebios in seiner zwischen 312 und 322 entstandenen Praeparatio evangelica überliefert:4Eusebiospraep. evang. 10, 3
Ταῦτ᾿ εἰπόντος τοῦ Νικαγόρου ὁ Ἀπολλώνιος∙ ῾Καὶ τί θαυμάζομεν᾿, ἔφη, ῾εἰ Θεοπόμπου καὶ Ἐφόρου τὸ τῆς κλοπῆς πάθος ἥψατο, ἀργοτέρων οὕτως ἀνδρῶν, ὅπου γε καὶ Μένανδρος τῆς ἀρρωστίας ταύτης ἐπλήσθη, ὃν ἠρέμα μὲν ἤλεγξε διὰ τὸ ἄγαν αὐτὸν φιλεῖν Ἀριστοφάνης ὁ γραμματικὸς ἐν ταῖς Παραλλήλοις αὐτοῦ τε καὶ ἀφ᾿ ὧν ἔκλεψεν ἐκλογαῖς; Λατῖνος δ᾿ ἓξ βιβλίοις, ἃ ἐπέγραψε Περὶ τῶν οὐκ ἰδίων Μενάνδρου, τὸ πλῆθος αὐτοῦ τῶν κλοπῶν ἐξέφηνε∙ καθάπερ ὁ Ἀλεξανδρεὺς Φιλόστρατος Περὶ τῆς τοῦ Σοφοκλέους κλοπῆς πραγματείαν κατεβάλετο. Κεκίλιος δέ, ὥς τι μέγα πεφωρακώς, ὅλον δρᾶμα ἐξ ἀρχῆς εἰς τέλος Ἀντιφάνους, τὸν Οἰωνιστήν, μεταγράψαι φησὶ τὸν Μένανδρον εἰς τὸν Δεισιδαίμονα.᾿ … ἀλλ᾿ ἵνα μὴ καὶ αὐτὸς κλοπῆς ἄλλους αἰτιώμενος κλέπτης ἁλῶ, τοὺς πραγματευσαμένους τὰ περὶ τούτων μηνύσω. Λυσιμάχου μέν ἐστι δύο Περὶ τῆς Ἐφόρου κλοπῆς, Ἀλκαῖος δέ, ὁ τῶν λοιδόρων ἰάμβων καὶ ἐπιγραμμάτων ποιητής, παρῴδηκε τὰς Ἐφόρου κλοπὰς ἐξελέγχων, Πολλίωνος δὲ ἐπιστολὴ πρὸς Σωτηρίδαν Περὶ τῆς Κτησίου κλοπῆς, τοῦ δ᾽ αὐτοῦ καὶ Περὶ τῆς Ἡροδότου κλοπῆς ἐστι βιβλίον καὶ ἐν τῷ ἐπιγραφομένῳ Ἰχνευταί πολλὰ περὶ Θεοπόμπου λέγεται, Ἀρητάδου τέ ἐστι Περὶ συνεμπτώσεως πραγματεία, ἐξ ὧν τοιαῦτα πολλὰ ἔστι γνῶναι. (frg. 408/409 Smith = Euseb. praep. evang. 10, 3, 12–13 u. 23)
(„Auf diese Worte des Nikagoras hin sagte Apollonios: ‘Was wundern wir uns also darüber, dass Theopomp und Ephoros von der Kleptomanie ergriffen wurden, zwei so träge Gesellen, wenn selbst Menander von dieser Krankheit befallen war, den der Grammatiker Aristophanes, weil er ihn allzu sehr verehrte, in den Parallelexzerpten, die er aus seinen Werken und den von ihm bestohlenen Schriftstellern anfertigte, nur ein bisschen schmähte. Latinos aber zeigte die ganze Menge seiner Plagiate auf in den sechs Büchern, die er Über das, was nicht von Menander stammt schrieb. Ebenso unternahm es auch Philostratos von Alexandria, ein Werk Über die Plagiate des Sophokles zu schreiben. Und Kekilios sagt – so als ob er eine große Entdeckung gemacht hätte –, dass Menander vom Anfang bis zum Ende ein ganzes Drama, den Augur des Antiphanes, zu seinem Abergläubigen umgeschrieben habe.’ … Doch um nicht selber als Ankläger von Plagiatoren des Plagiats überführt zu werden, möchte ich diejenigen Autoren, die zu diesen Fragen geschrieben haben, nennen. Von Lysimachos gibt es zwei Bücher Über die Plagiate des Ephoros; auch Alkaios, der Dichter von schmähenden Jamben und Epigrammen, brachte die Plagiate des Ephoros ans Licht und spottete über sie; von Pollion gibt es einen gegen Soteridas gerichteten Brief Über die Plagiate des Ktesias, vom selben Autor auch ein Buch Über die Plagiate Herodots, und viel über Theopomp steht auch in der Spürnasen betitelten Schrift; und von Aretades stammt das Werk Von den Übereinstimmungen – in diesen Schriften kann man viele Beispiele dieser Art finden.“)
Zumeist geht man davon aus, dass Porphyrios die Schrift noch während seiner Lehrzeit bei Kassios Longinos in Athen, also vor seinem Weggang nach Rom im Jahr 263 n. Chr., verfasst hat.5 Der erhaltene Abschnitt beschreibt eine Gastmahlszene, in der sich die beteiligten Sprecher (Grammatiker, Geometer, peripatetische und stoische Philosophen) über literaturkritische Fragen austauschen und, einer bei Symposien gerne geübten Praxis6 folgend, Autoren synkritisch miteinander vergleichen. Dabei kommen sie auch auf Plagiatsfragen zu sprechen. Im zitierten Ausschnitt belegen die Symposiasten ihre Behauptungen, indem sie auf einschlägige Spezialabhandlungen περὶ κλοπῆς verweisen.
Der größere Teil der von Porphyrios genannten Schriften befasst sich mit historischen Werken. Als ein Beispiel wird eine Schrift Περὶ τῆς Ἐφόρου κλοπῆς genannt.7 Die Lebenszeit ihres Autors Lysimachos lässt sich auf etwa 200 v. Chr. datieren.8 Soweit wir aus den überlieferten Nachrichten ersehen, muss das Werk als ein Nebenprodukt mythographischer Forschungen angesehen werden. Lysimachos verfasste umfangreiche Untersuchungen zu Reisesagen und eine Zusammenstellung von thebanischen Wundergeschichten.9 Seine Methode war die des mythologischen