Einen besonders interessanten Fall stellt die Schrift περὶ τῆς Σοφοκλέους κλοπῆς des Philostratos von Alexandria dar.40 In ihr scheint zum ersten Mal einer der spätestens seit Aristophanes von Byzanz als kanonisch erklärten Autoren41, also ein πραττόμενος, unter Plagiatsverdacht zu stehen. Sophokles hatte in der späthellenistischen Zeit Euripides als am höchsten geschätzter Tragiker abgelöst.42 Offenbar handelt es sich bei Philostratos um den aus Alexandrien stammenden Akademiker, der in der Gunst des Antonius und der Kleopatra stand und von dem eine Reihe von biographischen Informationen überliefert ist.43 Ein Papyrusfund aus dem Jahr 1943 erlaubt eine nähere Charakteristik der Schrift:44
ε[ἰ Ꞌ Σο]φοκ[λ]έους τὸ δρᾶμα [· λέ] Ꞌ γει γὰρ Φιλό[σ]τρατος ἐν τῷ λ[γ] πε[ρ]ὶ τῶν Σοφοκλ[έους] {τοδρ[α]μ[α]λεγει} κλοπῶν ὅ Ꞌ τι οὐκ ἔστι Σοφοκλέους
(„… wenn das Drama überhaupt von Sophokles ist. Philostratos sagt nämlich im 33. Buch seines Werks über die Diebstähle des Sophokles, dass es nicht von Sophokles ist.“)
Die Scholiennotiz eines anonymen Grammatikers aus dem 2. Jhdt. n. Chr. betrifft ein textkritisches Problem im pseudosophokleischen Ναύπλιος Πυρκαεύς. Vor dem eigentlichen Zitat stellt der Scholiast die Frage nach der Authentizität des Dramas und verweist dabei darauf, dass Philostratos im 33. Buch seines Werks über die Diebstähle des Sophokles behaupte, es stamme gar nicht von Sophokles. Zwei Gesichtspunkte sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben: Zum einen der schiere Umfang des Werks von über 33 Büchern, mit dem die Schrift sogar die voluminöse Sammlung des Latinos um mehr als das fünffache übertrifft. Zum anderen überrascht der Inhalt des Werks, in dem es offensichtlich auch um Fragen der Pseudepigraphie ging.45
Eine nicht bei Eusebios bezeugte Schrift, bei der man bislang ebenfalls meist davon ausgegangen ist, dass es sich um eine polemische Plagiatsschrift gehandelt haben muss, ist auf der Basis des bisher Ausgeführten noch zu prüfen. Es handelt sich um das ins 2. Jhdt. zu datierende Werk des Ammonios, von dem bei Ps.-Longinus und in den Homerscholien46 die Rede ist: Ammonios hätte demnach sprachliche Anleihen an Homer bei Platon gesammelt.47 Ps.-Longinus schreibt, er könne auf einen detaillierten Nachweis der sprachlichen Bezugnahmen Platons auf Homer verzichten, weil diese schon von Ammonios herausgesucht und verzeichnet wurden.48 Dem anonymen Autor geht es hier darum zu zeigen, dass Entlehnungen kein Diebstahl (κλοπή) sind, sondern einer inspiratorischen Wirkung der älteren Dichter auf ihre Leser entspringen. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass sich auch aus der Erwähnung dieser Schrift keine polemische Haltung des Ps.-Longinus gegen Ammonios ergibt: Der Autor wollte Platon nicht etwa gegen einen von Ammonios erhobenen Plagiatsvorwurf verteidigen, sondern wendet sich gegen eine Fehlinterpretation des gesammelten Parallelenmaterials. Aus seiner Erwähnung bei Ps.-Longinus kann also nicht abgeleitet werden, dass Ammonios in seiner Schrift Plagiatsvorwürfe gegen Platon erhob.49 Vielmehr wird man sie zu dem Typ der Parallelensammlung rechnen, dem wir schon bei Aristophanes von Byzanz begegnet sind.50
Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten: (1) Von einem breiten Strom hellenistischer Literatur περὶ κλοπῆς kann rein quantitativ nicht die Rede sein. Offenbar hatte schon Porphyrios Probleme, eine ausreichende Zahl von einschlägigen Schriften mit dezidierten Plagiatsvorwürfen zusammenzubringen, sonst hätte er Aristophanes nicht ebendiese polemische Absicht entgegen der ursprünglichen Intention seiner Parallelensammlung unterstellt. (2) Im Kontext der hellenistischen Philologie können wir nur im Bereich der Geschichtsschreibung und, wenn man die beiläufigen Äußerungen eines Herakleides Pontikos, Eratosthenes oder Apollonios von Perge in Betracht zieht51, bei Fachprosa im weiteren Sinne Vorwürfe περὶ κλοπῆς feststellen, wo es auf die eigene ἐμπειρία bzw. die im Sinne des wissenschaftlichen Fachdiskurses notwendige exakte Zitation ankam. (3) Im Feld der Dichtung, wo raffinierte intertextuelle Bezugnahmen an der Tagesordnung waren, sticht in voraugusteischer Zeit hingegen geradezu das Fehlen des κλοπή-Vorwurfs seitens der Philologen ins Auge. Allenfalls stellte man – etwa bei den ἐγκριθέντες, den kanonischen Autoren – sorgsam die parallelen Formulierungen zusammen, um sie etwa bei der gelehrten Kommentierung heranzuziehen (Aristophanes von Byzanz; Ammonios). (4) Die bezeugten Monographien, in denen explizit Plagiatsvorwürfe gegen Dichter erhoben werden – also die Schrift des Perellius Faustus über Vergils furta und die beiden griechischen Werke des Latinos und des Philostratos –, lassen sich alle relativ genau in die augusteische bzw. frühkaiserzeitliche Epoche datieren; sie sind demnach am besten in die Nachahmungsdebatten dieser Zeit einzuordnen. Die Ὁμοιότητες des Avitus wird man stattdessen besser mit dem älteren Typus der tendenzlosen Parallelensammlung verbinden.
2.2.2 Die Plagiatsvorwürfe gegen Vergil im Kontext der zeitgenössischen imitatio-Debatte
Asconius Pedianus berichtet in seiner Schrift gegen die obtrectatores, Vergil habe sich gegen den Vorwurf (crimen) des Homerplagiats mit dem Hinweis verteidigt, seine Ankläger müssten beim Versuch, es ihm gleichzutun, feststellen, dass es leichter sei, dem Herkules die Keule als Homer einen Vers zu stehlen. Den literarischen Aneignungsprozess beschreibt Vergil hier zwar mit einer Diebstahlsmetapher (surripere), er hebt aber zu seiner Verteidigung die mit einem solchen furtum verbundene (künstlerische) Anstrengung hervor.1 Offensichtlich soll damit ausgedrückt werden, dass Vergils Verwendung von homerischen Einzelstellen2 mit den Begriffen furtum bzw. κλοπή nicht adäquat umschrieben ist. Ob Vergil den Ausspruch tatsächlich so getan hat, ist eine Frage. Unabhängig davon aber ist es wichtig zu verstehen, wie die Anekdote als Argument gegen den Plagiatsvorwurf in der augusteischen bzw. frühkaiserzeitlichen Vergilkritik Plausibilität beanspruchen konnte.
Werfen wir zur Beantwortung der letzteren Frage zunächst einen Blick auf einen Zeitgenossen Vergils: Wenn sich Horaz in epist.Horazepist. 1, 3, 15–20 1, 3, 15–20 nach seinem Dichterkollegen Albinovanus Celsus erkundigt, der sich ungeniert aus den Bücherschätzen der von Augustus gegründeten palatinischen Bibliothek bedient und seine dichterischen Machwerke wie die sprichwörtliche Krähe mit „fremden Federn“ schmückt, so spricht aus diesen Versen ein reflektiertes Bewusstsein über literarische Appropriation.3 Horaz stellt dem Celsus seinen Briefadressaten Florus gegenüber, indem er seine rednerische oder dichterische Tätigkeit zwar ebenfalls mit der Metapher des Zusammensammelns bezeichnet – hier ins Bild der Biene gefasst, die ihren Honig aus verschiedenen Blüten zusammenmischt –, ihm aber als spezifische unterscheidende Qualität non … parvum | ingenium, non incultum zuspricht, das seinen Produkten den ersten Rang unter den Konkurrenten sichert.4 Die natürliche Anlage und ihre Ausbildung sind demnach Voraussetzung für erfolgreiche imitatio – es findet sich aber keine Spur einer Abwertung der Nachahmung als solcher bei Horaz. Stattdessen erscheint der ständige Rekurs auf dichterische Vorbilder gewissermaßen als die Ausgangssituation des Dichtens: Den Unterschied macht das wie.5 Im Bienengleichnis liegt ein entscheidender Hinweis auf das Kriterium, das die Qualität des Produkts bestimmt: So wie der gute Honig auf der gelungenen Mischung der Blütensäfte beruht, zeichnet sich das Dichtwerk, das Einflüsse aus verschiedenen Autoren aufnimmt, vor allem durch Einheitlichkeit und Integration der Einzelelemente aus. Entsprechend ist auch der Originalitätsanspruch, den Horaz in epist.Horazepist. 1, 19, 19–34 1, 19, 19–34 erhebt, zu verstehen: Er rechnet sich nicht zum servom pecus der Nachahmer, die sklavisch ihrem Vorbild in Form und Inhalt folgen.6 Zwar orientiert er sich in seiner Epodendichtung in der metrischen Gestalt und dem Ethos an den archilochischen Jamben, doch weicht er inhaltlich von ihnen ab (epist. 1, 19, 24–25: numeros animosque secutus | Archilochi, non res et agentia verba Lycamben). Sappho und Alkaios