Plagiate werden aber nach Seneca d.Ä. auch von Seiten des Publikums begünstigt, weil sich infolge des konstatierten Verfalls der Redekunst niemand mehr um die Ausbildung seines Gedächtnisses (memoria) kümmere und man mithin allgemein die Fähigkeit verloren habe, unlautere Übernahmen auch nur zu erkennen.9 Seneca verknüpft also Plagiats- und Dekadenzgedanken in doppelter Weise, nämlich sowohl auf der Ebene des Produzenten wie auf der Ebene des Rezipienten: Die hohe rhetorisch-literarische Bildung des Publikums zu Zeiten Ciceros war ein natürlicher Schutz gegen literarischen Diebstahl gewesen, weil man sich furta vor einer so gut informierten Zuhörerschaft nicht hätte erlauben können. Das Aufkommen der Plagiate in jüngerer Zeit wird als Symptom einer moralischen und rhetorischen Verkommenheit gewertet, die nicht nur den Plagiator kennzeichnet, sondern auch im Publikum bzw. der Gesellschaft vorliegt, dessen kritisches Vermögen so weit reduziert ist, dass es sich von Plagiatoren täuschen lässt. In suas. 2, 19 wird dieser Verfallsprozess auf Seiten des Publikums im Zusammenhang mit einem Plagiatsvorwurf gegen Abronius Silo dargestellt, der eine Sentenz seines Lehrers Latro (si nihil aliud, erimus certe belli mora) übernommen hatte:10Seneca d.Ä.suas. 2, 19
postea memini auditorem Latronis Abronium Silonem … recitare carmen, in quo agnovimus sensum Latronis in his versibus: ‘ite agite, <o> Danai, magnum paeana canentes, | ite triumphantes: belli mora concidit Hector.’ tam diligentes tunc auditores erant, ne dicam tam maligni, ut una syllaba surripi non posset; at nunc quilibet orationes in Verrem tuto dicet pro suo. (suas. 2, 19)
Früher hätte man keine Silbe unbemerkt entwenden können, während das Publikum zur Entstehungszeit der Sammlung es nicht einmal registrieren würde, wenn ein moderner Redner einen Klassiker wie Ciceros Verrinen als sein Werk ausgäbe.
Andererseits finden sich aber auch Stellen, an denen Plagiatsvorwürfe vom Publikum gegen einen Deklamator erhoben, von Seneca d.Ä. oder einem der beteiligten Sprecher hingegen nachdrücklich als ästhetisch unbegründete Wertungen zurückgewiesen werden.Seneca d.Ä.suas. 3, 7 In suas. 3, 7 berichtet Gallio davon, dass Ovid in seiner Medea einen berühmten Ausdruck Vergils (plena deo)11 verwendet habe, der zuvor schon seine Runde in den Rhetorenschulen gemacht hatte und sich großer Beliebtheit erfreute.12 Gallio muss explizit klarstellen, dass Ovid hier wie auch sonst bei seinen zahlreichen Vergilanleihen (quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat) nicht unlauter als Plagiator gehandelt habe (non subripiendi causa), sondern dass er mit der Möglichkeit der Entdeckung nicht nur gerechnet, sondern eine solche sogar gewünscht habe (sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci).
Ähnlich ist demnach auch der Hinweis auf Vergils Bearbeitung der zitierten Sentenz Silos in suas. 2, 20 zu deuten (s.o.). Statt wie Silo den Ausdruck belli mora aus Latro wörtlich zu übernehmen, wandelt ihn Vergil in der Rede, in der er den Unterhändler Venulus im elften Buch der Aeneis vor Latinus die Antwort des Diomedes wörtlich referieren lässt, in manu … | haesit um:
sed ut sciatis sensum bene dictum dici tamen posse melius, non †prae ceteris† quanto decentius Vergilius dixerit hoc, quod valde erat celebre, ‘belli mora concidit Hector’: ‘quidquid ad adversae cessatum est moenia Troiae, | Hectoris Aeneaeque manu victoria Graium | haesit.’ <Aen. 11, 288–290>
Der Gedanke, dass der siegreiche Ausgang des Krieges für die Griechen durch die Hand des Hektor und Aeneas verzögert wird, entspricht inhaltlich dem abstrakteren Ausdruck belli mora. Hervorzuheben ist, dass Seneca d.Ä. an Silos belli mora concidit Hector nicht wirklich etwas aussetzt: Der Ausdruck fügt sich rhetorisch wirkungsvoll in Silos Verse ein und wird kurz darauf auch als „wohlformulierte Sentenz“ (sensum bene dictum) bezeichnet. Nur die Tatsache, dass es sich um ein wörtliches Zitat handelt, wird von den Zuhörern erkannt (agnovimus): Silo setzt sich auf diese Weise dem Plagiatsvorwurf aus – den sich Seneca d.Ä. freilich nicht zu eigen macht! – und schmälert damit seine Leistung. Vergil wird als Beleg angeführt, dass man eine gelungene Vorbildstelle auch unter Vermeidung wörtlicher Übernahme in sein Werk integrieren kann, nämlich indem man den Ausdruck noch optimiert (sensum bene dictum dici tamen posse melius).13 Die Verbesserung ist darin zu sehen, dass Vergil die Drastik des Abstraktums belli mora durch den konkreten körperlichen Instrumentalausdruck manu … | haesit ersetzt und der Vorbildstelle so die Schärfe nimmt (vgl. quanto decentius Vergilius dixerit hoc).
Der Imitator ist also in zweierlei Hinsicht von seinem Publikum abhängig: Einerseits muss es literarisch hinreichend informiert sein, um das imitierte Muster erkennen zu können, andererseits muss es die Nachahmung als künstlerische Tätigkeit schätzen und nicht einfach als Plagiat abtun. Dass hier immer wieder Diskussions- und Klärungsbedarf bestand, zeigt contr. 9, 1, 12–14:14Seneca d.Ä.contr. 9, 1, 12–14 Arellius Fuscus hatte eine griechische Sentenz des Asianers Adaeus im Lateinischen nachgeahmt und dabei leicht verändert. Als ihm dies zum Vorwurf gemacht wurde, soll er entgegnet haben: do … operam, ut cum optimis sententiis certem, nec illas corrumpere conor sed vincere (contr. 9, 1, 13). Nicht Geltungssucht oder die Bequemlichkeit des Plagiators haben ihn zur Übersetzung (transtulisse … in Latinum) veranlasst, sondern die rednerische Übung (exercitatio).15 Dann verallgemeinert er: multa oratores, historici, poetae Romani a Graecis dicta non subripuerunt sed provocaverunt.16 Arellius Fuscus zitiert zum Beweis seiner Ansichten eine Sentenz des Thukydides, die Sallust imitiert und dadurch übertroffen habe, dass er ihre spezifische stilistische Qualität – die brevitas – nachzuahmen und zu steigern versuchte (in suis illum castris cecidit). Der doppelte Vorwurf, der dann im Anschluss in contr. 9, 1, 14 von Livius gegen Sallust erhoben wird, besteht einerseits darin, dass er übersetzt, andererseits, dass er stilistisch verschlechtert hat. Aus dem erstgenannten Vorwurf lässt sich ersehen: Der Übersetzer, der seine Quellen nicht kenntlich macht, handelt für Livius verwerflich. Die Argumentation des Arellius, es handle sich eben nicht um Plagiat (surripere), sondern um künstlerischen Wettstreit, will Livius nicht gelten lassen.
An einer weiteren Stelle wird deutlich, dass kleinere Korrekturen der Vorlage nicht hinreichen, um die Nachahmung gelingen zu lassen.Seneca d.Ä.contr. 10, 5, 20 In contr. 10, 5, 20 wird der Fall des Triarius berichtet, der eine griechische Sentenz des Glycon „stiehlt“ (subriperet), d.h. übersetzt, und dabei nur geringfügig ändert (ex aliqua parte … inflexit).17 Severus Cassius habe dieses Vorgehen trotz der Änderung als Plagiat bezeichnet, indem er die Deklamatoren, die so handelten, mit den Herstellern schlechter Vasenimitate verglich.18 Künstlerische Nachahmung im Sinne der imitatio erfordert demnach nicht ein notdürftiges Kaschieren einzelner Spuren der Vorlage, sondern muss in einer wirklichen Verbesserung des Modells bestehen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt kommt in contr. 7 praef.Seneca d.Ä.contr. 7 praef. 4 4 zum Tragen, wo Seneca d.Ä. vom Deklamator Albucius berichtet. Dieser Redner folgt zwar in gewisser Weise der Forderung nach der Wahl mehrerer Vorbilder (vgl. contr. 1 praef. 6), doch weist er Mängel im Bereich einer anderen Kategorie auf, nämlich beim rhetorischen iudicium. Albucius habe sich bei der Wahl seiner Vorbilder von allzu schnell gefassten Meinungen leiten lassen und schwankend im Urteil habe er einmal diesen, einmal jenen nachgeahmt: quem proxime dicentem commode audierat, imitari volebat. Das ging so weit, dass er sich sogar an Vorbilder anschloss, die jünger als er selber waren, wie etwa den Philosophen Fabianus. Als Grund macht Seneca d.Ä. also ein Defizit an Urteilsvermögen geltend (inconstantia iudicii), das bei Albucius zu der beanstandeten stilistischen Ungleichmäßigkeit führt.19
Besonders aufschlussreich für das Imitationsverständnis Senecas d.Ä. ist schließlich der bereits erwähnte plena-deo-AbschnittSeneca d.Ä.suas. 3, 4–7 suas. 3, 4–7.20 Wieder wird hier Arellius Fuscus als Beispiel für eine umstrittene Art der Nachahmung präsentiert. Diesmal gibt Seneca d.Ä. erkennbar seine Ablehnung zu erkennen: Arellius hätte Verse aus Vergils Georgica nachahmen wollen, allerdings ohne dass die Wahl dieses Vorbilds durch die Thematik der Suasorie gerechtfertigt gewesen wäre (valde autem longe petit et paene repugnante materia, certe non desiderante). Vergil dagegen hätte seine Beschreibung – es geht um die Schilderung des Mondlichts inVergilgeorg. 1, 427–433 georg. 1, 427–429 und