Zumindest über die Tradition der peripatetischen Poetik und Literaturgeschichtsschreibung dürfte sich auch in späterer Zeit ein Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit des Parodiebegriffs erhalten haben, auch als der Begriff soviel von seiner Schärfe eingebüßt hatte, dass man grundsätzlich jede beliebige literarische Bezugnahme in komischer Absicht damit bezeichnen konnte. Die oben zitierte Stelle aus Quintilian zeigt zumindest, dass man zwischen einem ursprünglichen, d.h. engeren, und einem erweiterten Parodiebegriff auch noch in römischer Zeit zu unterscheiden wusste.
In der Zeit der gattungsmäßigen Parodie zielte man nicht eigentlich darauf ab, Homer lächerlich zu machen26, sondern versuchte nur, aus dem Widerspruch von Form und Inhalt komische Wirkungen für das eigene dichterische Produkt zu ziehen.27 Von einer polemischen Haltung gegenüber dem Musterautor ist in den überlieferten Fragmenten jedenfalls kaum etwas zu bemerken, und grundsätzliche Homerkritik kann auch kaum die Absicht der Paroden gewesen sein, die sich des kanonischen Dichters vor allem wegen seines Wiedererkennungswerts bei den Zuhörern bedienten. Die Möglichkeit, die Form der Parodie für literarische Angriffe (ψόγος) gegen den imitierten Dichter oder Redner zu verwenden, trat erst mit der Zeit zu der ursprünglichen Funktion hinzu, dichterisches Geschick, Witz und Einfallsreichtum zu zeigen und das Auditorium zum Lachen zu bewegen (γελοῖον).28 Diese modernere, polemische Form der Parodie kam insbesondere dann zur Anwendung, wenn es nicht gegen einen etablierten Autor wie Homer, sondern gegen zeitgenössische Dichterrivalen – wie etwa Vergil – ging.29
Eindeutig polemisch ist die Parodie jedenfalls im ersten Fragment (nach ecl. 1, 1) des Numitorius, für das man eine gegen den Dichter Vergil gerichtete Spitze plausibel machen konnte: Mit der toga calda ist wohl auf den sozialen Aufstieg des Emporkömmlings Vergil = Tityrus angespielt.30 Das zweite FragmentVergilecl. 3, 1–2 (nach ecl. 3, 1–2) hat eine erkennbar stilkritische Nuance.31 In der anonymen Ergänzung eines Georgica-Halbverses (georg.Vergilgeorg. 1, 299 1, 299) liegt ein intelligenter Kalauer nach einem auch aus anderen Autoren bekannten Muster vor. 32
Wenn Sueton für Vergil also als ein besonderes Rezeptionsphänomen hervorhebt, dass dieser wie schon Homer parodiert worden sei, dann wird der zeitgenössische Leser wohl die seit Aristoteles und Polemon zu einem literaturhistorischen Faktum gewordenen Parodendichtungen assoziiert haben, die zumindest am Beginn immer auf epische Rhapsodenvorträge bezogen waren. Dass die Parodie zum Mittel der persönlichen Invektive gegen einen zeitgenössischen Dichter gerät, ist hingegen ein „modernes“ Element.
Eine Frage bleibt aber noch zu klären: Warum zitiert Sueton Eklogen- und Georgica-Parodien, nicht aber den Culex, der als Aeneisparodie eine naheliegende Verbindung zu diesen ‘klassischen’ Homerparodien herstellen würde? Die Antwort ist wohl darin zu sehen, dass man den Culex als authentisches Jugendwerk Vergils betrachtete33 und der Parodiebegriff nur auf Werke angewendet wurde, bei denen eine sekundäre Bezugnahme auf ein Werk eines kanonischen Autors durch einen von diesem verschiedenen Paroden anzunehmen war. Aus denselben Gründen wird der ps.-homerische Margites an keiner Stelle explizit als Homer-Parodie geführt.34 Ähnlich liegen die Dinge bei der ps.-homerischen Batrachomyomachie, die nie im strengen Sinn als Parodie angesprochen und dem Culex schon früh als dichterische praelusio an die Seite gestellt wurde.35
Folgt man der VSD, so hat es neben der Parodie aber noch andere Gattungen der Vergilkritik gegeben: Kritik in der Nachfolge der sog. Ὁμηρομάστιξ des Zoilos und Plagiatsvorwürfe. Dass sich der zuerst genannte Carvilius Pictor36 mit dem Titel seiner Aeneidomastix auf den prototypischen Vertreter der Homerkritik, Zoilos von Amphipolis, bezog, dürfte auf der Hand liegen. Wie aber ordnet sich diese Nachricht in die Rezeptionsgeschichte des Zoilos, soweit uns diese heute noch greifbar ist, ein?37 Der Sophist Zoilos hatte sich im vierten Jahrhundert neben historischen und rhetorischen Werken mit seinen neun Büchern κατὰ τῆς Ὁμήρου ποιήσεως einen Namen als Homerkritiker gemacht. Er folgte in dieser Schrift vermutlich dem Handlungsgang von Ilias und Odyssee und brachte an denjenigen Stellen, die ihm anfechtbar schienen, seine Ausstellungen an. Soweit wir wissen, hat sich Zoilos – anders als sein Zeitgenosse Aristoteles in der Schrift über die Homerprobleme38 – mit der Identifikation und Verzeichnung der problematischen Passagen begnügt. Den Beinamen Ὁμηρομάστιξ scheint man ihm erst nach seinem Tod gegeben zu haben, wie es auch wohl erst in späthellenistischer bzw. augusteischer Zeit dazu kam, dass man ihn zum Muster des Homerkritikers erhob.39 Aus dieser Periode sind uns sowohl zustimmende40, neutrale41 wie auch eindeutig ablehnende (s.u.) Einschätzungen des Zoilos bezeugt, bevor sein Name dann in der Folgezeit zum Inbegriff des Homerbekritlers werden konnte.42
Zur letzteren Kategorie gehört ein Distichon aus Ovids Lehrgedicht über die Heilmittel gegen die Liebe: ingenium magni livor detractat Homeri: | quisquis es, ex illo, Zoile, nomen habes.43Ovidrem. 365–368 Ovid wendet sich in dieser Einlassung gegen Kritiker, die seine erotischen Dichtungen unter moralischem Gesichtspunkt beanstanden (vgl. rem. 361–362: Nuper enim nostros quidam carpsere libellos, | Quorum censura Musa proterva mea est). Die Stelle zeigt einerseits, dass Zoilos zur Abfassungszeit der Remedia, also ca. 1 v. Chr./2 n. Chr.44, als Inbegriff des schmähsüchtigen Kritikers gelten und andererseits auch für moralisch motivierte Kritik in Anspruch genommen werden konnte. Die zweite Beobachtung stellt eine bemerkenswerte Erweiterung des kritischen Spektrums dar, wie wir es aus den überlieferten Zoilosfragmenten rekonstruieren können.45 Für die Aeneidomastix, an die Ovid – wie gleich noch zu zeigen ist – an dieser Stelle denkt, kann damit prinzipiell auch moralische Kritik angenommen werden.46
Bei Ovid folgt unmittelbar anschließend in rem. 367–368 dieselbe Parallelisierung von Vergil- und Homerkritik, die wir in der VSD angetroffen haben: Et tua sacrilegae laniarunt carmina linguae, | Pertulit huc victos quo duce Troia deos. Die explizite Erwähnung des Aeneisdichters berechtigt zu dem Schluss, dass Ovid hier auf die Aeneidomastix anspielt47, woraus sich eine Datierung dieser Schrift in die zwei Jahrzehnte zwischen 19 v. Chr. und spätestens 2 n. Chr. ergäbe. Zwar verlegt sich Ovid in dem anschließenden Passus rem. 373–388 auf den Hinweis auf stoffliche und stilistische Gattungskonventionen als Rechtfertigungsstrategie gegen den livor, erklärt die Kritik an Homer und Vergil in rem. 369–370 aber mit dem allgemeinen Hinweis Summa petet livor, perflant altissima venti, | Summa petunt dextra fulmina missa Iovis.48 Nach dieser Sentenz ruft alles Große, beinahe einem Naturgesetz folgend, Kritik hervor. Indem er aus dem Umstand der Kritik auf den Rang der angefeindeten Dichter schließt, trifft sich Ovid mit Sueton, der im Einleitungssatz VSD 43 ja einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert hatte.
Methode und Tendenz der Aeneidomastix sind für uns heute nur mehr umrisshaft zu erschließen, doch wird man Folgendes festhalten können: Die Schrift dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach in die erste Phase der Aeneisrezeption in den beiden Jahrzehnten unmittelbar nach Vergils Tod fallen. Wenn der im Titel gegebene Bezug mehr ist als eine unverbindliche Anspielung, dann wird sich die Kritik methodisch in dem von Zoilos vorgegebenen Rahmen bewegt haben und, wie aus dem Ovidzitat hervorgeht, moralische Kritik miteingeschlossen haben. Die Methode, kritische Anfragen gegen eine Dichtung in Form eines ζήτημα bzw. einer quaestio zu richten, war aus der alexandrinischen Philologie schon kurz vor der Entstehung der Aeneidomastix in Rom eingeführt worden und wird Carvilius Pictor das formale Muster für seine Kritik an die Hand gegeben haben.49
Was den Inhalt von Herennius’ Schrift über die vitia Vergils betrifft, so lässt sich dieser wohl enger als bei Carvilius Pictor eingrenzen. Worin bestanden die inkriminierten vitia? Eine Schrift mit einem ähnlichen Titel verfasste der Aristarchschüler Dionysodoros.50 Einer der Irrtümer, die er im Rhesos korrigierte, betraf die genaue Lokalisierung