1.4 Das Prinzip der Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik
Ehr’ im Leben oder Ehr’ im Tod, das ziemt sich für den Edlen.1
Das Prinzip der Angemessenheit in der rhetorischen Praxis und politischen Öffentlichkeit hat von der Antike bis ins postmoderne Zeitalter hinein seine prominente Rolle innerhalb einer rhetorischen Situation behaupten können. Zwar haben sich die Rahmenbedingungen von der politischen Rede im Senat und auf der ἀγορά hin zu multimedialen Präsentationen in großen Unternehmen auf der ganzen Welt stark verändert, doch hat in der Praxis eine Rede ohne die Beachtung des decorum kaum Erfolg. Angemessenheit liegt jeglicher rhetorischen Praxis zugrunde, ihr ephemeres Wesen scheint sich allerdings der rhetorischen Theorie zu versperren. So stellt sich nun die Frage nach der Relevanz von Angemessenheit in der Theorie. In der Tradition der rhetorischen Theorie wird das decorum in der elocutio als ästhetische Größe, aber auch in der inventio, dispositio und actio als ethische Größe verortet. Doch sollte im 17. Jahrhundert der Jurist Christian Thomasius eine bedeutende Rolle spielen, indem er „die überkommene klassisch-humanistische Rhetorik in ihren zentralen Lehrstücken verabschiedet.“2 Welche Auswirkungen dies nun auf die Kategorie des decorum hat, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Es wird zu zeigen sein, dass Thomasius die Bedeutung des decorum gebührend hervorhebt, indem er die Wohlanständigkeit als eine der drei Grundsäulen des Rechts etabliert und das decorum als eine primär ethische Komponente in der Theorie verankert.
Doch zunächst ist das Angemessenheitspostulat in der Poetik zu finden. So widmet sich Horaz in seiner Ars Poetica der Aufgabe „[...], quid alat formetque poetam, quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error. scribendi recte sapere est et principium et fons.“ („ich werde lehren [...], was einen Dichter fördere und bilde, was sich zieme, was nicht, wodurch Tugend und wodurch Irrtum entstehen möge. Wissen ist sowohl der Ursprung als auch die Quelle des richtigen Schreibens.)3 Aus diesem Grunde gehört es für Horaz zum notwendigen Handwerkszeug eines Dichters, die jeweiligen Unterschiede in Stil und Gattung zu kennen (Ars Poetica, V. 86), um folgerichtig die passende Verbindung von innerlich Gefühltem und äußerlich Gezeigtem zu finden, d.h. es geht um die innere Stimmigkeit von res, gestus und verba: So entsprechen beispielsweise trauernde Worte einem traurigen Gesicht (V. 105). Wie in Vers 92 bereits angekündigt, hat jedes Wort, jeder Stil, jede Geste und jeder Gegenstand seinen passenden Ort. Das decorum ist das Wissen um die je angemessene Dichtung am rechten Platz und nimmt an dieser Stelle bei Horaz das altgriechische Konzept des καιρός auf. Wie auch Aristoteles vor ihm nimmt Horaz das rhetorische Ethos in den Blick, wenn er in den Versen 112ff., 178 und 227 die verschiedenen Charaktere von Menschen jeden Alters und ihre Unterschiede bezüglich des sozialen Status deutlich macht. Decorum bedeutet hier, dass Sprache und Ethos in einer Dichtung passgenau aufeinander bezogen sind (vgl. Kapitel 2.2). Horaz versteht Dichtung als ein Gemälde (V. 361), das jedoch nicht allein durch Begabung (natura) oder allein durch Technik (ars) gelingt4, sondern trotz aller künstlerischen Freiheit seine Stimmigkeit durch das Wissen um und die Beachtung des decorum erlangt, wie Horaz zu Beginn seiner Schrift anhand von Brüchen des Decorum vorführt: „Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde?“5
Lotte Labowsky ist in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1934 der Meinung, Horaz habe seine Ars Poetica in zwei Teile eingeteilt: Vers 1 bis 284 behandelten das ästhetische decorum, während der zweite Teil, der erst in Vers 309 beginnt und sich bis Vers 476 erstreckt, das ethische decorum zum Thema habe.6 Zu Recht weist Labowsky an dieser Stelle außerdem auf die Beziehung zwischen beiden Arten des decorum hin, da auch Horaz das decorum als einen Anspruch an die Perfektionierung von Dichtung per se formuliert, der sowohl ethisch auf den Künstler, Poeten und Redner als Mensch, als auch ästhetisch auf das Kunstwerk, die Dichtung und Rede zielt. Die Mühe und zeitraubende Arbeit des rhetorischen Feilens an der eigenen Dichtung („limae labor et mora“ V. 291), d.h. die poetisch verfeinerte elocutio, verleihe dem Dichter sodann Macht, Ruhm und Ehre. Das zuvor Gedichtete detailliert rhetorisch zu überprüfen, ist für Horaz gleichbedeutend mit der Beachtung des decorum. Die Einheitlichkeit, Stimmigkeit und Einheit eines künstlerischen Werkes wird durch das ästhetische und ethische decorum als dichterisches Telos nach Horaz gewährleistet. Mithilfe des Prinzips der Angemessenheit wird die künstlerische Zusammengehörigkeit einzelner poetischer Teile und rhetorischer Aspekte innerhalb einer Dichtung trotz aller Freiheit in der Kunst garantiert (V. 1-25). Innerhalb der Poetik des Horaz findet sich das rhetorische decorum im Rahmen einer dramatischen Inszenierung von Sprache auch als ethische Kategorie wieder, welche die stilistischen und die ethischen Implikationen einer Dichtung innerhalb einer rhetorischen Situation thematisiert.7
Aristoteles (ethische Tugenden, eth.Nic. X, 8, 1178a10-13), Cicero, Quintilian und Horaz sind sich in der Notwendigkeit des decorum vitae innerhalb der Rhetorik einig und werden auch in den poetologischen Bestrebungen des 17. Jahrhunderts um deutsche „Wohlredenheit“ und Dichtung anerkannt. Dyck spricht in seiner Ticht-Kunst davon, dass „[d]ie Decorum-Lehre, die in der vorbildgebenden antiken Rhetorik und Poetik solchermaßen verankert ist, [...] in die rhetorischen und poetischen Traktate des 17. Jahrhunderts übernommen [wird] und [...] eine zentrale Stellung innerhalb der Stilvorschriften [gewinnt], die der „barocke Klassizismus“ für sich als maßgebend erachtet.“8 Hierbei sind laut Sinemus am Beispiel des Werkes De Poesi graecorum libri octo von Abidas Praetorius jedoch zwei verschiedene Dichtungslehren zu unterscheiden: diejenige des decorum materiae und diejenige des decorum verborum. Er verdeutlicht, inwiefern sich das Wesen der Angemessenheit in deutschen Poetiken ausprägt und stellt fest: „[D]er poetologische Maßstab der Angemessenheit ist keine Subkategorie der Elocutio – Lehre, [...] sondern er umfasst auch die Themen- und Gattungswahl, im rhetorischen Produktionsmodell: die inventio und dispositio.“9
An dieser Stelle ist besonders Martin Opitz zu nennen, der 1624 eine Theorie des decorum in seinem Buch von der Deutschen Poeterey als eine Art von „Zierlichkeit“10 formuliert. Opitz’ Anliegen war es, Regeln und Grundzüge einer deutschen Dichtkunst des Barock zu formulieren, die aufgrund ihrer Nationalsprache auch ein anderes Vermaß als das antike verfolge, – nun nämlich den Alexandriner als Regelvers –, welcher der deutschen Sprache angemessener sei (Buch von der Deutschen Poeterey, VII. Kapitel). Besonders im VI. Kapitel kommt Opitz auf die „Zierlichkeit“ zu sprechen, die zunächst gemeinsam mit der Eleganz, dann der Komposition oder Zusammensetzung von Worten und schließlich mit der Dignität und dem Ansehen (inneres aptum einer Rede) von Worten je einen Aspekt der Rede darstellen. „Zierlichkeit“ scheint hier (VI. Kapitel, S. 24) noch auf den ornatus im Rahmen der elegantia beschränkt und von der ethischen Kategorie des aptum und dem ihm übergeordneten decorum im Ansehen und der Dignität von Worten getrennt zu sein.11 Opitz versteht unter „Zierlichkeit“ primär reine und deutliche Worte, worunter er zum einen das Hochdeutsche ohne Verwendung von Fremdwörtern fasst, und wenn dies nicht vermeidbar ist, wie bei den nomina propria, den Eigennamen, so sind doch zumindest fremdländische Namen mit deutschen Endungen zu versehen (VI, S. 25) und in eine deutsche Schreibweise zu übersetzen (VI, S. 27). In diesen Rahmen des rhetorischen ornatus sind auch seine Ausführungen zum schicklichen Klang einzuordnen, der ein genaues Studium von Buchstaben und deren Klangfolge erfordert: „Weil ein buchstabe einen andern klang von sich giebet als der andere/soll man sehen/das man diese zum offteren gebrauche/die sich zue der sache welche wir für uns haben am besten schicken.“12 Empfohlen wird eine gute Zusammensetzung von Buchstaben in einem Wort und