Die normative Kraft des Decorum. Sophia Vallbracht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sophia Vallbracht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001666
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in den schmutzigen Füßen und in der zerlumpten Bekleidung der beiden vor der Madonna knienden Pilger, wie auch die Darstellung einer barfüßigen Madonna, die in lässiger Manier an einer Säule lehnt und ein schon älteres Jesuskind auf dem Arm trägt, wurde als Bruch des decorum im sakralen Bild kritisiert.15 Viele seiner Altarbilder wurden wegen unzulänglicher Angemessenheit in der Ausdruckssprache von Klerikern zurückgewiesen.16 Die Grenzen des künstlerisch Darstellbaren und kirchlich Akzeptablen in der Altarmalerei auszuloten, machte das Problem des kirchlichen decorum aus, das eigentlich schon mit dem Dekret über die Verehrung der Heiligen im Jahre 1563 auf dem Konzil von Trient gelöst werden sollte, dessen Einhaltung jedoch den Bischöfen vor Ort oblag und somit weiterhin für Diskussionen sorgte.17

      Doch nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur wird das Ideal von Angemessenheit thematisiert, so bei Jane Austen in ihrem Roman Pride and Prejudice, wo sie in unterhaltsamer, doch gesellschaftskritischer Manier das decorum selbst zum treibenden Thema einer Handlung macht und damit auch noch als weibliche Schriftstellerin im 18. Jahrhundert erfolgreich war.18

      Und auch in der Moralphilosophie ist Angemessenheit als propriety ein Aspekt, so in Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759). Dieses Werk kann aufgrund seines deskriptiven Charakters als eine „Phänomenologie der Moral“19 gelten, das zeigt, inwiefern propriety (Schicklichkeit/Anstand/Angemessenheit) aus sympathy (Anteilnahme/Verständnis) hervorgeht. Adam Smith sieht den Menschen als soziales Wesen, das über die Fähigkeit verfügt, ein „fellow-feeling“20 (Zugehörigkeitsgefühl) für seine Mitmenschen zu entwickeln: Sympathy setzt ihn instand, die Gefühle (emotions), die der Andere zeigt, selbst zu entwickeln und sich in den Anderen hineinzuversetzen. Doch sympathy wird nicht durch die dargestellten passions (Erregung) hervorgerufen, sondern durch die Situation selbst, die sie ausgelöst hat.21 Ist nun die von einem Mitmenschen gezeigte Erregung (passions) im Einklang mit den „sympathetic emotions of the spectator“22 (mitschwingende Gemütsbewegung des Beobachters), dann erscheinen diese passions dem Zuschauer just und proper zu sein. Teilt der Beobachter eine Meinung oder ein Gefühl, das der Mitmensch vertritt oder zeigt, dann werden diese als proper eingestuft und gutgeheißen. Propriety bezeichnet nach Adam Smith die suitableness23 (Angemessenheit) einer Emotion, eines Gefühls oder einer Reaktion im Hinblick auf den Anlass in der jeweiligen Situation. Adam Smith weitet das Konzept von propriety aus, indem er sie als Bedingung für tugendhaftes Handeln allgemein und als grundlegendes Ordnungsprinzip für eine liberale Gesellschaftsstruktur bestimmt.24 Insofern ist Smiths Ansatz, sympathy als „rhetorical consensus between moral agents“25 zu fassen, der jegliche intersubjektive Kommunikation in einem persuasiven Interesse in den Blick nimmt, nah an der in dieser Arbeit vorgestellten rhetorischen Auffassung von Angemessenheit. Angemessenheit als propriety oder πρέπον/decorum soll im Fokus stehen: Sie sprengt die restriktiven Bestimmungen als Stilqualität und bezieht die normativen Erwartungen an den Orator und die sympathy als emphatisches Einfühlungsvermögen mit ein.

      Von Adam Smith ausgehend, stellt sich die Frage, ob Eigeninteresse (self-interest) notwendigerweise dem Altruismus als dem „Sehen des Anderen“ gegenüberstehen muss26, oder ob nicht gerade im rhetorischen Prinzip des decorum diese Dichotomie durch die Fähigkeit des Redners zur sympathy (Empathie) im Rahmen des Adressatenkalküls überwunden werden muss, um persuasiv erfolgreich zu sein. Es stellt sich heute wohl weniger die Frage nach dem moralischen Charakter eines Redners, als nach seiner sozialen Fähigkeit, den Rezipienten wahrzunehmen27, um auf dessen Gefasstheit dann rhetorisch einwirken zu können.28

      Die Bedeutung von Angemessenheit in seiner interdisziplinären Gefasstheit reicht folglich von „sakraler Würde“ (Caravaggio) und „elegantem Anstand“ (Austen) bis zum „sozialen Moralprinzip“ (Smith), das einerseits ephemeren Charakter hat, dessen Wesenhaftigkeit in der Theorie der Rhetorik dennoch präzise einzufangen ist und einer systematischen Eingrenzung und Ausdifferenzierung bedarf.

      Es fällt auf, dass der Begriff decorum in Deutschland irgendwann verschwunden ist29 und als Angemessenheit wiedergegeben wurde, ohne dass das Prinzip an sich vergessen worden wäre. Dagegen findet der Begriff decorum im englischen Sprachraum bis heute in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise ganz dezidiert im parlamentarischen Bereich in Großbritannien, Verwendung.30 Die These dafür könnte sein, dass sich im Kampf zwischen König und grundbesitzendem Adel eine bestimmte soziale Struktur in England herausgebildet hat, die auf dem Prinzip des gentry decorum basiert. Ihren Anfang findet sie in der Magna Charta (1215), welche dem Adel politische Freiheiten gegenüber dem König gewährt und auch mit dem Freiheitsartikel 39 ein wichtiges Grundrecht für alle freien Bürger einführt. Später diente diese als Fundament für die Petition of Rights, die vom Parlament an König Karl I. 1628 gerichtet wurde, für die Bill of Rights (1689) und schließlich auch für den Rule of Law31 und damit für den englischen Parlamentarismus.

      All diesen politischen Bestrebungen um Unabhängigkeit und Freiheit wohnt ein „gesellschaftlicher Sinn“32 von Ordnung und ständisch bedingtem Anstand inne, der je neu im politischen Raum verhandelt worden ist. Damit ließe sich auch von einer systembildenden Funktion des decorum innerhalb einer Gesellschaft sprechen33, wenn man das decorum als „Ordnungsmuster“34, „Ordnungsreflex“35 oder „Hyperreferenz“36 teleologisch deutet: Es ermöglicht soziale Differenzierung über Relationierung, Polarisierung und Transmedialität.37

      Das decorum ist also als rhetorisches Prinzip auch kulturell prägend, indem es gesellschaftliche Grenzen praktisch bestimmt und reguliert. Es scheint, als ob kaum ein anderer Begriff der antiken Rhetorik derart auf einen gesellschaftlichen Verhaltenskodex38 verweist und in seiner Ausformulierung bis dato dennoch vage bleiben musste und kaum eine habhafte – eher eine fühlbare oder mit Goethe eine gefühlte39 – Referenz bot.

      Das Problem von Diversität, Komplexität und Flüchtigkeit spiegelt sich in den verschiedenen theoretischen Zugängen zur Frage nach der Angemessenheit. Diese reichen von Angemessenheit als Bestandteil hermeneutischer Betrachtungen und Theorien in der Literaturwissenschaft (Limpinsel40), als Stilqualität (Kienpointer41) bis zur Angemessenheit als sozialem Wert (Beetz42). Einen interessanten Zugang bietet Ulla Fix, die Angemessenheit als „Adäquatheit“43 wiedergibt; sie versteht diesen Begriff allerdings dezidiert normativ. Die Normen siedelt sie auf vier verschiedenen Ebenen an, nämlich auf der instrumentalen Ebene (Richtigkeit, Stimmigkeit), der situativen (Empfänger, Sender, Medium, Kanal, Gegenstand, Strategie, Intention und Erwartung), der ästhetischen (Klarheit, Folgerichtigkeit, Gewähltheit und Elaboriertheit) und der parasprachlichen Ebene (Kodes, kulturelle Bedingungen)44. Für Fix ist „Adäquatheit“ ein pragmatisches Kriterium eines Textes und ein Kriterium für Redekompetenz45 per se. Zwar gelingt es Ulla Fix, die Angemessenheit eines Textes in sprachlich-kommunikativen Normen auszudifferenzieren und darauf hinzuweisen, dass „kommunikative Adäquatheit“ als Kriterium je situativ neu verhandelt werden muss, doch wird der rhetorisch-ethische Aspekt des decorum nach Cicero vernachlässigt. Während für Cicero das decorum ein inhärent ethisches Kriterium ist, bestimmt Fix die Adäquatheit als eine Art Brücke „zur Erkenntnis und Anerkennung der sozialen und ethischen Funktion sprachlichen Handelns“46.

      Wenn Rhetorik auf Persuasion abzielt, die durch den Orator strategisch geplant wird und auf rhetorischem Kalkül und plausiblen Schlüssen beruht, dann muss aber in der kommunikativen Interaktion der ethische Aspekt von Angemessenheit eine bedeutende Rolle spielen. Angemessenheit muss mehr sein als kontextuelle Adäquatheit, doch wie in aller begrifflichen Diversität und interdisziplinären Komplexität das ephemere Wesen von decorum eingefangen werden kann, soll hier als Desiderat benannt, analysiert und aufgehoben werden.

      1.2 Intention der Arbeit

      Auch stimmt damit das gemeinste Urteil der gesunden Menschenvernunft vollkommen zusammen; nämlich dass der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könne [...]. Kant: Kritik der Urteilskraft. II, §86.

      Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Begriff des decorum in seiner ethischen Prägung bei Cicero und Ambrosius in den gleichnamigen Schriften