Eine zweite Antwort könnte lauten, dass das Erhabene die einzige Ausnahme ist, die das Postulat von Angemessenheit erlaubt. Für Kant ist das Erhabene letztlich die Unmöglichkeit einer objektiven und positiven Repräsentation. Nach § 23 (B, 75/76) ist das Erhabene an einem formlosen Gegenstande zu finden, der in seiner Unbegrenztheit und in Totalität gedacht wird. Kein Maß kann es fassen, ist es doch in der Kategorie der Quantität als Größe, Macht, Chaos gedacht und so sich selbst Maß. Die menschliche Einbildungskraft scheitert an dieser ästhetischen Größenordnung, ist den Ideen unangemessen. So resultiert die Unangemessenheit des Erhabenen aus der Unangemessenheit der sinnlichen Vorstellung des Menschen selbst.
Das Erhabene ist hier als Idee der Unendlichkeit zwar nicht angemessen darzustellen, doch erreicht es eine Angemessenheit auf einer höheren Ebene. Indem der Mensch sich auf die Unendlichkeit als solche besinnt und begreift, dass die Natur keine Macht über ihn hat, kann er sich in Freiheit, die Willensbestimmung im autonomen Menschen ist, von der Furcht befreien. Sein Verhalten ist nicht von der Natur festgelegt, sondern von seiner eigenen Vernunft bestimmt. Sein Endzweck ist das rechte Handeln. Sich des Erhabenen als Idee der Vernunft klarzuwerden, bedeutet, dass sein Verhalten dann ethisch-moralisch angemessen sein kann. Denn Kant spricht in Bezug auf das Sittengesetz von „der Erhabenheit des Gegenstandes“ (KpV A 291), die darin besteht, dass der Mensch durch seine Intelligenz, Persönlichkeit und sein inneres moralisches Gesetz seinen eigenen Wert entfaltet (KpV A 289/290). Kants Sittengesetz geht ins Unendliche insofern, als es nicht auf Bedingungen des Lebens begrenzt ist, sondern über meine individuelle Existenz hinausgeht. Es ist die formale Bedingung menschlicher Freiheit. Ergo könnte man schlussfolgern, dass das Sittengesetz nach Kant den Menschen erhaben werden lässt. Kants transzendentale Ästhetik und seine Pflichtethik konvergieren in diesem Punkt, wenn das Erhabene, von einer transzendentalen Idee ausgehend, zu einem ethischen Prinzip wird: „Der Gegenstand eines reinen und unbedingten intellektuellen Wohlgefallens ist das moralische Gesetz in seiner Macht, die es in uns über alle und jede vor ihm vorhergehende Triebfedern des Gemüts ausübt“ (KdU B, 120).
Kants Moralphilosophie und Ästhetik des Schönen und Erhabenen finden in Friedrich Schiller einen begeisterten Anhänger, der dem kantischen Weg der „Kraft der Vernunft“ zwar folgt, doch bisweilen auch Abzweigungen nimmt.
Schiller erweist sich nicht nur bezüglich der ethischen Sittenlehre (vgl. Kapitel 3.3), sondern auch bezüglich des Erhabenen bei Kant als sein Vermittler und künstlerischer Weiterdenker13. Kant scheint für Schiller eine Art philosophischer Anregung und literarischer Ausgangspunkt gewesen zu sein.14 Schiller selbst schreibt in einem Brief am 3. März 1791 über Kant: „Seine Kritik der Urteilskraft, die ich mir selbst angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren lichtvollen geistreichen Inhalt und hat mir das größte Verlangen beigebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten.“15 Man könnte sogar sagen, Schiller lernt bei der Lektüre Kants16 und dessen konzeptuellen Begrenzungen, selbst eine eigene Kunstphilosophie zu entwickeln. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich nach Burke (A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the Sublime and Beautiful) und Kant auch Schiller mit dem Erhabenen befasst und dieses sogar neu verortet, nämlich in der literarischen Gattung der Tragödie.
Während für Kant „das moralische Gesetz in mir“, der kategorische Imperativ als der durch den Willen bezwungene Trieb, das Zentrum seiner Pflichtethik bildet, ist für Schiller der Wille des Menschen nicht dem Sollen, sondern der Kunst unterworfen, mit dem Ziel der sittlichen „Veredelung“.17 Die Überzeugung, dass die Kunst als Mittel der Befreiung und Veredelung des Menschen dient, teilt Schiller mit seinem späteren Freund Goethe, mit dem ihn im zweiten Anlauf schließlich eine anregende Freundschaft und eine Art Arbeitsgemeinschaft intellektuell Gleichgesinnter verbindet.
In seinem Gedicht An einen Moralisten schreibt Schiller zwar skeptisch: „Zu Göttern schaffst du Menschen nie“18, doch sie zu vervollkommnen, ihren Charakter zu veredeln, ist ein lohnenswertes Ziel, womit sich Schillers neunter Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen beschäftigt. Das Mittel zur sittlichen Vervollkommnung des Menschen ist die Ästhetik: „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.“19 Die Kultur als ästhetische Erziehung macht den Menschen fähig, seinen Willen zu behaupten und Freiheit zu erlangen, indem der Mensch als „das Wesen, welches will“ (Über das Erhabene, S. 822) sich moralisch bildet, denn „nur dieser, ist ganz frei“ (Über das Erhabene, S. 824). Mit Hilfe der Energie des Willens, so Schiller weiter, kann der Mensch die Natur beherrschen und sich dann von ihr unabhängig machen. Zur moralischen Anlage20 muss aber die ästhetische Kultivierung des Gemüts hinzukommen. Diese kann durch zwei „Genien“, wie Schiller in seinem Gedicht Schön und Erhaben selbst formuliert, gelingen: durch die Schönheit und das erhabene Gefühl.
Zweierlei Genien sind’s, die durch das Leben dich leiten,
Wohl dir, wenn sie vereint helfend zur Seite dir gehen!
Mit erheiterndem Spiel verkürzt dir der eine die Reise,
Leichter an seinem Arm werden dir Schicksal und Pflicht.21
Seine Konzeption vom Gefühl des Schönen und des Erhabenen entfaltet Schiller in zwei Aufsätzen, in Vom Erhabenen (1793) und ergänzend Über das Erhabene (1794). Während das Gefühl des Schönen ein Ausdruck der Freiheit innerhalb der Natur bedeutet, ist das Gefühl für das Erhabene Ausdruck von Freiheit außerhalb der Natur des Menschen. In der Schönheit passen Sinnlichkeit und Vernunft zusammen, im Erhabenen hat die Sinnlichkeit keinen Einfluss auf die Vernunft. Der Geist ist frei. Dieses Gefühl des Erhabenen ist ein doppeltes, denn es ist aus zwei entgegengesetzten Empfindungen, dem „Wehsein“, das sich als ein Schauer zeigt, und dem „Frohsein“ als positives Gefühl bis hin zum Entzücken, zusammengesetzt. Diese Bandbreite an möglichen Empfindungsextremen im Gefühl22 des Erhabenen zeigt, dass es die Haltung des Menschen zu einem Objekt ist, die entscheidend ist, dass zwei Naturen dem Menschen innewohnen, und beweist nach Schiller auch die „moralische Selbstständigkeit“23. In Vom Erhabenen sprach Schiller noch von zwei Grundtrieben, dem Selbsterhaltungstrieb (Gefühle) und dem Vorstellungstrieb (Erkenntnis) im Menschen als Sinnenwesen. An dieser Stelle führt Schiller aus, inwiefern sich der Mensch von der Natur unabhängig machen kann und er führt terminologisch die beiden Arten des Erhabenen ein: diejenige des „Theoretisch-Erhabenen“ (in Kantischer Diktion dem Mathematischerhabenen entsprechend) und die des „Praktisch-Erhabenen“ (dem Dynamischerhabenen entsprechend). Während das Theoretischerhabene die Natur als Gegenstand nutzt, um des Menschen Erkenntnis im Widerspruch zum Vorstellungstrieb zu erweitern, ist das Praktischerhabene als eine Macht in Opposition zum Erhaltungstrieb (beispielsweise in einer existenziellen Gefahr für den Menschen) zu begreifen, die den Zustand des Menschen selbst beeinflusst. Resümierend fasst Schiller das Erhabene als dreifach zu klassifizierende Macht: als objektive physische Macht, als subjektive physische Ohnmacht und als subjektive moralische Übermacht.24
Der menschliche Geist richtet sich nicht zwangsläufig nach den Sinneserscheinungen oder den Gesetzen der Natur und gibt sich somit der physischen Macht geschlagen, sondern nach dem „selbstständige[n] Prinzipium in uns“25, welches „das absolut Große in ihm selbst erblickt.“26 Das Erhabene, das sich „um den reinen Dämon in ihm [Menschen]“ verdient macht, ist als moralische Übermacht der Weg zur Würde des Menschen: „Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen.“27 Für Schiller ist die Kunst – worunter er in erster Linie die Dichtung und das Drama versteht – eine Quelle der Veredelung des inneren Menschen. In der tragischen Kunst wird mithilfe des Mitleids und der Rührung beim Anblick einer Tragödie der Zuschauer in die Lage versetzt, sein Ich zu verlassen und zum dargestellten Andern zu werden.28 Die Bühne hat bei Schiller das Verdienst, eine Stiftung für den Menschen zu sein:
Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust gibt jetzt nur Einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein. 29
Für Schiller ist also die Ästhetik als schöne Kunst das Mittel