Dieser Prozess des sich Erhebens über die eigene Individualität kennt aber noch eine Steigerung: Das Schöne wird dann zum Erhabenen, wenn die Betrachtung der Gegenstände einen Widerwillen auslöst (wie bei Kant), wenn er sich der unermesslichen Größe der Gegenstände gegenüber als ein Nichts empfindet, er in seinem Körper einen Widerstand nicht nur bemerkt, sondern diesen Widerstand überwindet, indem er sich gewaltsam von seinem Willen losreißt (III, § 39, S. 272), sodass er sich an diesen Willen nicht einmal mehr erinnert: „[B]ei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewusstes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Objekts zum Willen“34.
Was versteht Schopenhauer aber unter dem Willen, dem er die Vorstellung gegenüberstellt? „Die Welt ist meine Vorstellung:“ Mit diesen apodiktischen Satz beginnt sein Werk Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Welt ist, kurz gesagt, Objekt für das Subjekt (I, § 1, S. 31), also seine Vorstellung, alles was mit den Sinnen und dem Verstand (I, § 4, S. 41) wahrgenommen wird (für Kant „Erscheinung“). Sie ist aber auch Wille. Dieser gibt ihm den „Schlüssel zu seiner eigenen Erscheinung“ (II, § 18, S. 151): „[D]er Wille ist die Erkenntniß a priori des Leibes, und der Leib die Erkenntniß a posteriori des Willens.“ (II, § 18, S. 152) Schopenhauers Begriff vom Willen ist weit gefasst und er meint nicht nur den Willen eines Menschen, sondern er spricht auch Tieren und Pflanzen einen Willen zu, indem er den Willen als „jede willkürliche Bewegung (functiones animales)“ und „Erscheinung eines Willensaktes“ und als „Wille zum Leben“ (II, § 20, S. 160-161 und § 27, S. 199 und 208) definiert. Für Schopenhauer ist der Wille der Wille zum Leben generell, er ist das beherrschende Lebensprinzip, die grundlos wirkende Kraft, ein dunkler zielloser Drang, der in allem Lebendigen wirkt (II, § 27, S. 199 und S. 208/211/213 und § 28, S. 220). Wille und Vorstellung stehen einander gegenüber, aber der Wille ist mächtiger, er beherrscht die Vernunft, nicht umgekehrt. Der Wille ist im Menschen ein ständiges Wollen, das nach Schopenhauer einem Mangel entspringt.35 Da jede Erfüllung nur von kurzer Dauer ist, jagen wir rast- und ruhelos den Objekten des Wollens nach. Ruhe findet der Mensch nur, wenn er den Willen verneint. Für die Willensverneinung gibt es zwei Möglichkeiten, die Askese (IV, § 66, S. 479), die von vielen Religionen praktiziert wird, oder eben die Kunst.
In der Kunst vergisst der Mensch seine Individualität, um sich „als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge“36 der Erkenntnis zu öffnen. Die Kunst antizipiert das Ideal oder die Idee des Schönen, wobei die Möglichkeit der „Anticipation des Schönen a priori im Künstler“, seine „Anerkennung a posteriori im Kenner“ liegt.37
Die Welt, die sich dem depressiven und misanthropen Autor Schopenhauer zu Beginn seines schriftstellerischen Schaffens als ein Ort des Leidens darstellt, ist für ihn im zweiten Band seines Hauptwerkes (1844) zum einen also durch die Kunst und zum anderen durch die Askese (IV, § 66, S. 478ff.) und das Mitleid Möglichkeit zu einer besseren Welt. Das Leid ist durch die Kunst und mit Hilfe der ästhetischen Freude zu lindern, wenn auch nur kurzweilige Momente des „inneren Friedens“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, III, § 52, S. 353) erreicht werden können. Mensch, Tier und die Pflanze sind im gemeinsamen Willen zum Leben vereint, und somit sind alle eins. Als Quelle moralischen Handelns und Ausweg aus dem Leiden im Leben dient das Mitleid (IV, § 67, S. 484f.), das den Egoismus des Menschen bekämpft, und auch in der Kunstbetrachtung und -erfahrung kann ein Quietiv als zwar momentaner, doch innerer ästhetischer Frieden erlangt werden.
Schopenhauers Gedanken gehen von seinem Vorläufer Immanuel Kant und dessen Erörterung der reflektierenden Urteilskraft und dem ästhetischen Apriori des Schönen und Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft aus. Obwohl Schopenhauer als Schriftsteller und Philosoph erst mehr als 30 Jahre nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes die gebührende Aufmerksamkeit und Popularität bei einer breiten Öffentlichkeit zuteil wurde, ist sein Beitrag der Willensmetaphysik gewichtig und verdeutlicht das Wesen des Erhabenen im inneren Weltbild eines Menschen, der sich als vom subjektiven Willen und seiner Vorstellung gezeichnet erfährt. Oder um mit Leo Tolstoi zu sprechen:
Sie sagen, er habe so recht und schlecht einiges über philosophische Gegenstände geschrieben. Was heißt einiges? Das ist die ganze Welt in unwahrscheinlich klarer und schöner Widerspiegelung.38
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich in der Antike zum einen eine positive Konnotierung von Erhabenheit zeigt und zum anderen auch eine Verbindung von decorum und Erhabenheit, die sich deutlich von dem Konzept des Erhabenen als gemischtem Gefühl bei Kant und Schiller abhebt.
Was alle angeführten Beispiele eint, – so unterschiedlich in der Gestaltung sie auch sein mögen – ist die Tatsache, dass sie aufgrund einer intendierten Wirkung eine Suggestion entfalten, der man sich schwer entziehen kann, dass sie im Betrachter eine bestimmte Stimmung oder bestimmte Ideen oder Assoziationen hervorrufen, andererseits aber trotzdem irgendwie unfassbar bleiben.39 Der Betrachter verspürt vielleicht sogar manchmal eine gewisse Unlust, die nach Kant daraus resultiert, dass die Einbildungskraft der „ästhetischen Größenschätzung“ unangemessen ist (KdU B, 97-B, 98/99). Das Erhabene ist also eng an den Rezipienten gebunden, ein Aspekt, den auch Schiller betont, wenn er sagt:
Der erhabene Gegenstand ist von doppelter Art. Wir beziehen ihn entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen bei dem Versuch, uns ein Bild oder einen Begriff von ihm zu bilden: oder wir beziehen ihn auf unsere Lebenskraft, und betrachten ihn als eine Macht, gegen welche die unsrige in Nichts verschwindet.40
Es kann ein subjektives Gefühl mit Kant oder ein objektives Gefühl in der Kunst mit Schiller, ein sich Erheben aus der eigenen Individualität und „ewiges Weltauge“ mit Schopenhauer oder eine Suggestion in der modernen Kunst darstellen. Die Wurzel des Erhabenen als jegliches Maß sprengende Größe ist eine Emotion im Betrachter beziehungsweise im Rezipienten, die sich als Furcht zeigt, die wesentlich die conditio humana des Menschen bestimmt. Deshalb sprengt das so verstandene Erhabene das Konzept des decorum. Als ästhetische Norm verstanden, unterliegt es anderen Gesetzen. Die bewusste Verletzung von Angemessenheitsregeln kann in der Kunst beispielsweise Raum schaffen für Kreativität, kann auch einen bewussten Affront gegenüber den Erwartungen des Publikums darstellen und so als revolutionärer Akt verstanden werden.
Was ist nun das Erhabene in der modernen Rhetorik? Ist es der antiken Konzeption einer Stillehre als genus grande, genus sublime und der Wirkung von Größe verhaftet? Inwiefern entwickelte sich die rhetorische Kategorie der Angemessenheit im decorum als gesamtethische Norm und aptum als sachbezogene Angemessenheit weiter? Inwiefern wirkt das Erhabene auf die Rhetorik ein? Ist das Erhabene vielleicht sogar ein Übergang oder ein Paradox?41
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert und der Etablierung der Ästhetik als einem genuinen Wissenschaftsbereich werden zwei Aspekte deutlich: zum einen die pragmatische Anwendung nach objektiven Kriterien und zum anderen die Ästhetik als philosophische Disziplin. Rhetorik als Kunst zum Zweck der Überzeugung