Allerdings darf man nicht verkennen, dass die heideggerschen Termini „Sprache“ und „Rede“ im Rahmen seiner fundamentalontologischen Daseinsanalyse (so in seiner Einleitung zu Sein und Zeit, S. 13) zu verstehen sind. Die Rede ist für ihn eine der Existenzialien, neben der Befindlichkeit und dem Verstehen, die das Dasein erschließen. Sie ist die „Artikulation der Verständlichkeit des In-der-Welt-seins“.4 Reden heißt „aufweisendes Sehenlassen“ (Sein und Zeit, S. 32) und ist untrennbar mit dem Verstehen verbunden. Rede als Existenzial des Menschen ist bei Heidegger das ontologische Fundament der Sprache, auf dem der Einzelne seine existenziellen Entscheidungen treffen muss. Sprache ist dabei lediglich als die „Hinausgesprochenheit der Rede“ definiert. Sie ist nach dem Paragraphen 34 das weltliche Sein der Rede. Dasein ist „Sichaussprechen“ (S. 162), „redendes In-Sein“ (S. 165).
In dieser vorliegenden Studie steht aber nicht so sehr Heideggers ontologisch-anthropologische Sicht des rhetorischen Logos im Fokus, als vielmehr die Frage, inwiefern sich Rede als Performanz von Sprache ethisch und rhetorisch angemessen ausprägt. Man könnte dennoch von einem „rhetorischen Sein“ sprechen, das sich in Sprache ausdrückt, als einem Kommunikationsprozess, in dem rhetorische und ethische Kategorien wie Ethos und Glaubwürdigkeit eine Rolle spielen. Das decorum nimmt dabei den primären Rang ein, da es anderen rhetorischen Kategorien (wie beispielsweise der Stillehre) übergeordnet ist, indem es den Bezugsrahmen darstellt, der weitere ethisch fundierte Kategorien beinhaltet.
In der vergleichenden Betrachtung von Ciceros und Ambrosius’ Werk De officiis soll dieser ethisch-rhetorisch weit gesteckte Rahmen deutlich werden. Marcus Tullius Cicero und Aurelius Ambrosius, zwei Autoren, die aus ihrem unbeirrbaren Glauben an ihr Tun ihr Selbstbewusstsein beziehen und auf Grund der ethischen Abstimmung ihrer Überzeugungen mit ihrer Lebensausrichtung herausragende Persönlichkeiten der Antike beziehungsweise der Spätantike darstellen, nehmen sich eines gemeinsamen Themas an, nämlich des Themas der Angemessenheit, zum einen in seiner rhetorisch-politischen, zum anderen in seiner rhetorisch-christlichen Ausprägung. Was veranlasste Ambrosius über 400 Jahre nach Cicero, ein weiteres Offizien-Buch zu schreiben? Ist dies indirekt als Widerlegung Ciceros gedacht? Konvergieren oder differieren die beiden Konzepte? Wie sind sie auf dem Hintergrund des jeweiligen Zeitalters rhetorisch zu bewerten? Auf diese Fragen soll hier Antwort gegeben werden.
Ambrosius bezog sich mit De officiis ministrorum offensichtlich bewusst auf Cicero und machte dessen decorum-Konzept für seine Arbeit fruchtbar. Beide Autoren verwenden weitere Begriffe als flexible Termini, mittels derer der Gehalt des decorum der jeweiligen Verfasstheit der Gesellschaft angepasst wird, in der das decorum seine Norm setzende Kraft entfalten konnte und sollte.
Ambrosius nimmt die erste Umfunktionalisierung von decorum vor, indem er verecundia (als Vorbedingung des ambrosianischen decorum), lex silentii (als die verborgene Seite des ambrosianischen decorum) und das officium als praeceptum (als christlicher Gebotskatalog) dem decorum zuordnet und es so als eine Norm göttlicher Provenienz bestimmt. Aus Ciceros rhetorisch-ethischem decorum wird nun durch Ambrosius’ Pflichtenethik ein christliches decorum. Mit Augustinus (Liebesethik) findet dann eine zweite Umfunktionalisierung des ciceronischen decorum statt, wenn er sein Verständnis von decorum eloquium vorstellt, eine Synthese des ciceronischen und ambrosianischen decorum im christlichen Bereich. Neue Gedanken zum Begriff des decorum sind erst durch das Christentum gekommen und so in der heidnischen Antike nicht zu finden.
Die vergleichende Analyse von Ciceros und Ambrosius’ decorum wird dann in einem weiteren Schritt ausgeweitet; das Angemessene wird in der Theorie der Rhetorik und als Diskursprinzip in verschiedenen Spannungsfeldern untersucht, unter Einschluss der ästhetischen, emotionalen5 und pragmatischen Dimension, wobei ihm schließlich als rhetorischem Prinzip sein Platz in einem Kommunikationsmodell zugewiesen wird.
1.3 Quod decet? – Das Schöne und das Erhabene
Die Vorstellung – nicht der Begriff – von Angemessenheit in rhetorischem Rahmen evoziert auch die philosophische Gegenüberstellung vom Angemessenen und Schönen oder vom Angemessenen und Erhabenen. Nicht nur Platon (Hippias Maior 291d-e), sondern auch Augustinus’ verloren gegangene Schrift (Vom Schönen und Angemessenen) oder Kant und Schiller beschäftigen sich mit dem Konzept von Angemessenheit als einem philosophischen Ideal oder einer ästhetischen Vorstellung. Das Angemessene und das Schöne können Gegenpole sein (Angemessenes als bloßer Schein des Schönen), Attribute füreinander oder das Angemessene im Sinne von Aristoteles (Rhetorik 1367b12-1367b20) zeigt sich in den schönen Taten. Das Schöne wiederum übertrifft das Angemessene, indem es mehr als angemessen im positiven Sinn meint und sich vor allem auf das menschliche Verhalten bezieht. Andererseits werden hohe Anforderungen an die Angemessenheit gestellt: Vernunft und Gefühl müssen zusammenwirken, wenn etwas Schönes entstehen soll. Sulzer sieht diese Fähigkeit vor allem beim Künstler, wenn er sagt, dass: „zwar [...] Künstler von feinem Geschmake selten in den Fehler des Unangemessenen verfallen; aber das genaue Angemessene erfordert große Scharfsinnigkeit und feines Gefühl. Eben darum aber giebt es den Werken des Geschmaks eine große Schönheit.“1 Schönheit schließlich steht in einem Bezug zum Erhabenen, muss aber auch davon abgegrenzt werden.
Unter den Begriffen des Schönen, Angemessenen und Erhabenen werden Möglichkeiten der ästhetischen Repräsentation beschrieben, die philosophisch und rhetorisch konnotiert sein können. Zunächst soll untersucht werden, welcher Bezug in der Rhetorik zwischen dem decorum und dem Erhabenen besteht.
Das Erhabene taucht in der antiken Rhetorik als Stilart der pathetischen Rede und Gattung der Festrede (genus demonstrativum) auf und dient zum einem dem movere/flectere sowie dem Pathos einer Rede. Erhabenheit in der Sprache kann emotional bewegend werden. Welchen Bezug hat das Erhabene dann in der Rhetorik zur Urnorm des decorum?
In der antiken Rhetorik des Aristoteles, Cicero und Quintilian ist Erhabenheit in der elocutio als genus grande, genus sublime oder genus vehemens verortet. Doch obwohl diese dritte Stilart nach dem genus subtile/genus humile und genus medium/genus mixtum als der überzeugendste Stil bei Cicero (Orator, 97) gilt und die größte Macht der Beredsamkeit („vis omnis oratoris“, Orator, 97) darstellt, ist sie nicht ohne Beschränkung frei anwendbar. Der wahre Redner, den zu skizzieren Ciceros erklärtes Ziel ist, ist ein wortgewaltiger Redner, der alle drei Stile meisterhaft einsetzen und in einer Rede auch miteinander verbinden kann. Denn, ob ein erhabener Stil eingesetzt, wann und in welchem Maße er eingesetzt wird, ist dem πρέπον/decorum unterstellt. Als angemessen gilt in Ciceros Orator, 70-72, was sich gemäß dem Redegegenstand (res), dem Redner (orator) und dem Publikum (auditor) ziemt. Auch für Aristoteles (Rhetorik III, 12, 1413b2ff.) ist Stil primär decorum und rechtes Maß. Lexik und Performanz werden nach dem rhetorischen Gesetz der Angemessenheit je situativ gewählt. Das decorum lässt