Insgesamt tendiert die bisherige Forschung in theologischem, altphilologischem, literatursoziologischem und politikwissenschaftlichem Ansatz zu vergleichenden Betrachtungen der Offizien-Bücher von Cicero und Ambrosius. In den letzten anderthalb Jahrhunderten wurden weder Ciceros, noch Ambrosius’ Werke als selbstständige Werke gewürdigt, sondern meist in Beziehung und Vergleich zu ihren Vorbildern gesetzt. Diese beschränkte Perspektive arbeitete zwar den christlichen Charakter der philosophischen Morallehre heraus und führte auch zu einer Rekonstruktion der Panaitios-Vorlage, doch ein tiefergehendes Interesse an den rhetorischen Konzepten Ciceros und Ambrosius’ in De officiis ist bislang kaum feststellbar. Nur vereinzelt klingt in Aufsätzen von Emeneau (1930), Thurmair (1973) und Kapust (2008) an, dass der Begriff des „decorum“ in umfassenderem Sinne einer Untersuchung wert wäre. Einzig das Buch von Lotte Labowsky (1934) geht dem Prinzip des decorum auf den Grund, das als ästhetisches Prinzip bei Cicero und Horaz untersucht wird. Auffallend ist jedoch, dass die Rhetoriker sich bislang kaum – außer Müller (erst 2011) – in die Diskussion um das decorum in Ciceros Schrift De officiis eingebracht haben.
3.1 Die Schmuckfunktion des Decorum (ornatus)
Die Rede muß geschmückt sein, denn nur in der geschmückten und damit vollkommenen sprachlichen Darstellung wird der Gehalt der Aussage erkennbar.1
Der ornatus als virtus elocutionis, der durch die Vollkommenheit der Rede den Inhalt wahrnehmbar macht, hat als rhetorische Kategorie einen festen Platz in der elocutio und Stillehre. Während Klarheit (perspicuitas) und Sprachrichtigkeit (latinitas/puritas) als Voraussetzungen jeder (erfolgreichen) sprachlichen Kommunikation gelten (recte dicendi), ist der ornatus (bene dicendi) zur sprachlichen Verständigung nicht zwingend notwendig. Doch gerade der Schmuck der Rede bietet dem Redner die Möglichkeit, die volle rhetorische Macht seiner Worte zu entfalten.
Dabei ergeben sich mehrere Fragen: Ist diese Entfaltung grenzenlos oder wird sie von einer anderen rhetorischen Kategorie begrenzt? Wie stehen die beiden rhetorischen Kategorien ornatus und decorum in Beziehung zueinander? Gibt es überhaupt eine Lehre des ornatus nach Cicero? Beschränkt Cicero den ornatus nur auf die ästhetische Ebene oder erfährt dieser auch eine Ausweitung ins Ethische? Wo liegt die Gefahr eines falsch verwendeten ornatus? Diese Fragen sollen untersucht und das Wesen des ciceronischen Decorum in seiner Verflechtung mit dem ornatus nachgezeichnet werden.
Ciceros Sicht der Rhetorik legt den Schluss nahe, dass decorum und ornatus als virtutes dicendi ineinander verflochten sind, indem zum einen das decorum die Anwendung des ornatus normiert und zum anderen der ornatus das decorum ins Ästhetische hebt. In seinen Werken Orator und De oratore zeigt Cicero besonders deutlich, inwiefern das decorum den ornatus normiert. Sein Konzept eines Orator eloquens betont den bestimmenden Aspekt, dass sapientia und oratio2 miteinander verbunden sein müssen, will der perfekte Redner den schwierigsten Prüfstein einer Rede – zu sehen, was angemessen (deceat) ist – meistern. Das decorum wird als unantastbares Regulativ definiert, welches den gedanklichen und sprachlichen Ausdruck einer Rede bestimmt. Dabei müssen drei Faktoren beachtet werden: „[D]as hängt zum einen von der Sache ab, um die es geht, zum andern von der Person sowohl derjenigen, die reden, als auch derer, die zuhören.“3 Das Anwendungsgebiet des decorum sieht Cicero jedoch nicht nur im Bereich der Kommunikation, sondern auch in der Dichtung und im Leben allgemein. Er begreift das decorum damit als ein rhetorisches und soziales Instrument mit ubiquitärer Wirkungsweise. So verwundert es nicht, dass das decorum als „ein Maßstab, den wir immer an alle unsere Äußerungen und Handlungen, die kleinsten und die größten, anlegen“4 definiert wird. Im Gegensatz zur rhetorischen Kategorie des aptum5 scheint das decorum eine Maßeinheit sui generis zu sein. Das innere aptum bezieht sich auf die Rede selbst, während das äußere aptum sich mit den äußeren Gegebenheiten einer Rede wie beispielsweise dem Publikum und dem Setting beschäftigt. Dennoch sind beide Arten des aptum eng an die Rede als solche gebunden und verbleiben damit im rhetorischen Wirkungsbereich einer Rede. Der Begriff decorum hingegen verweist auf den sozialethischen Aspekt der Beredsamkeit, indem nicht nur die Sachangemessenheit einer Rede, sondern vor allem das rhetorische Stilprinzip decorum als ethische Handlungsnorm des Menschen in den Fokus gerückt wird.
Der ornatus als schmuckvolle Formulierung einer Rede ist nach Cicero eine „concinnitas“6, deren Ziel Harmonie und Wohlklang der Wörter ist. Das lateinische Nomen concinnitas (f.) bedeutet kunstgerechte Verbindung, rhetorische Kunstform oder Harmonie. Das wortverwandte Adjektiv concinnus präfiguriert schon in seiner Etymologie „durch Ebenmaß und Harmonie gefallend“7 eine Verbindung von Maß (decorum) und Harmonie/Schönheit (ornatus/εὐρυθμία). So lobt Cicero dementsprechend auch Demokrits Sprachtalent: „[D]ie Schönheit seiner Sprache selbst ist aber als die Leistung eines Redners zu betrachten.“8 Schönheit ist nicht nur im ästhetischen Sinne, d.h. in Bezug auf einen gefälligen Rhythmus oder Redestil zu verstehen, sondern auch in einem übergeordneten Sinn von Ordnung und Maßhalten. Ähnlich wie die Rhetorik ohne Philosophie als Quelle und die Philosophie ohne die Rhetorik als wirkungsvolles Kommunikationsmittel nicht zur Vollkommenheit nach Cicero9 ausreichen, so ist auch der ornatus mit dem decorum in der angemessenen Sprache untrennbar verbunden.
Doch wie lässt sich der perfekte ornatus einer Rede bestimmen? Als beste Art der Formulierung einer Rede definiert Cicero diejenige, die latine, plane, ornate und apte ist.10 Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, das Verhältnis von decorum und ornatus ließe sich auf eine einfache Regel reduzieren. Es ist kein statisches, absolutes, eher ein dynamisches, situativ verankertes Verhältnis, das in der jeweiligen Redesituation unter Berücksichtigung aller redeimmanenten und externen sozialen Faktoren vom Redner selbst neu bestimmt werden muss. Das decorum als rhetorischer Maßstab bestimmt dabei den ornatus der Rede.
Doch welche Wirkung hat der ornatus auf die rhetorische Basiskategorie decorum? In seiner Vorlesung schreibt Nietzsche über die Beziehung zwischen ornatus und decorum:
Der Schmuck also verlangt die Übertragung des Angemessenen in eine höhere Sphäre von Schönheitsgesetzen, er ist Verklärung des Charakteristischen, einmal durch Ausscheidung des minder Edlen im Charakterist., sodann Steigerung des Edlen und Schönen; der großen Züge des Charakteristischen. Er ist höhere Natur, im Gegensatz zu einer gemeinen Natürlichkeit, Nach- und Umbildung, im Gegensatz zur Nachahmung und Nachäffung.11
An die Stelle einer unlösbaren Verbindung von ornatus und decorum scheint bei Nietzsche eine Hierarchisierung zu treten, wenn der ornatus das decorum in ästhetische Gefilde erhebt und so ein Mittel der „Steigerung des Edlen und Schönen“ an sich ist. Im Schönen zeigt sich „der Mensch als Maß der Vollkommenheit“12, das er aber definiert und erarbeitet. Das Schöne an sich existiert nicht, es wird aktiv am Menschen erarbeitet.13 So wird als erste Wahrheit der Ästhetik die These postuliert: „Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön [...] nichts ist häßlich als der entartete Mensch“14. Der Mensch als archimedischer Punkt von Schönheit muss sich Maximen unterwerfen, will er schön sein. Nietzsche integriert in seine Ästhetikvorstellung eine moralische Dimension, wenn er eine Wechselwirkung zwischen Sitte und Schönheit oder Erkenntnis und Schönheit betont. So wird derjenige zunehmend schöner, der sich völlig der Sitte unterwirft, d.h. der sich körperlich und geistig anpasst.15 Der Bereich des Schönen konvergiert zunächst mit dem des moralisch Guten, doch die Existenz von vielen Arten von Schönheit – auch die des schönen Bösen – wird dennoch nicht negiert. Im Gegenteil, Nietzsche betont diese Art der Vielfalt an menschlicher Schönheit, die noch zu entdecken bleibe.16 So ist nach Nietzsche nicht nur die Erkenntnis des Schönen schön, sondern auch die Erkenntnis der hässlichsten Wirklichkeiten ist schön. Die Erkenntnis des großen Ganzen der Wirklichkeit erfüllt