Neben decorum verwendet Quintilian auch noch weitere Synonyme für Angemessenheit, die jeweils ihre eigenen Konnotationen einbringen. So verwendet er „convenit“ („es gebührt/schickt sich“) neben der Bedeutung eines geziemenden Redestils (XI, 1, 93) auch, um sittliches Verhalten am Beispiel von Sokrates (XI, 1, 11) oder anhand der Schilderung eines tränenumflorten Zeugen vor Gericht (als Konjunktiv Präsens aktiv „conveniat“ in XI, 1, 84) zu bezeichnen, welches angemessen auf den Redner abgestimmt ist beziehungsweise sein muss und so dessen Rede verstärkt und glaubwürdig macht. Mit „accommodamus“ („wir passen an“), das derselben Wortfamilie entstammt wie „accommodatus“ (Partizip Perfekt zu oben genannten Verb für „schicklich/angepasst“) bezeichnet Quintilian in XI, 1, 39 die sprachliche Abstimmung des Redners auf die Wesensart (mores) seines von ihm vertretenen Klienten.
Wie für Cicero ist Quintilians Definition des decorum zu verstehen als ein Wissen um das rechte Maß, das nach seiner Auffassung aber nicht mit dem Verstand, sondern nur durch die Sinne erfahr- und erfassbar ist. Diese Betonung der Sinneswahrnehmung (αἴσθησις) ist genuin „quintilianisch“.
Die etymologische Untersuchung von Termini innerhalb des Angemessenheitskonzeptes bei Griechen und Römern hatte zum Ziel, die unterschiedlichen kulturellen und begrifflichen Prägungen des decorum aufzuzeigen. Während sich die Ethik bei den Griechen mit Platon und Aristoteles in der Ästhetik des Schönen verortet, ist sie bei den Römern eine Ethik innerhalb der societas, die durch den gesellschaftlichen Rang und das Verhalten einer Person, d.h. durch das Ethos, welches sich aus der auctoritas und der dignitas speist, maßgeblich konstituiert wird.
3 Das römische Decorum in Ciceros De Officiis
3.0 Forschungsüberblick
Die bisherige wissenschaftliche Forschung bezüglich der gleichnamigen Offizien-Bücher von Cicero und Ambrosius ist seit über einem Jahrhundert bestimmt vom Primat der vergleichenden Betrachtung. Den Auftakt bilden die Studie Bittners (1849) und vor allem die beiden Preisschriften der Theologischen Fakultät der Universität München von Hasler und Leitmeir aus dem Jahr 1864. F. Hasler und D. Leitmeir untersuchen sowohl die perhorreszierte, heidnische Ethik Ciceros, als auch die christliche Ethik Ambrosius’. Wie schon der Titel Leitmeiers angibt, sind diese Studien nach Hiltbrunner lediglich „apologetische Theologie“ ohne philologisch fundierte Untersuchung der Texte.1 Hasler sieht bei Ambrosius im Vergleich zu Cicero einen anderen geistigen Ansatzpunkt und räumt auf Grund dessen Ambrosius als Kirchenvater und Vertreter der christlichen Moral eine Vorzugsstellung ein, wohingegen Cicero abgesprochen wird, die menschliche Seele überhaupt zu kennen und Gott als Schöpfer zu erkennen.2 „Autoritative Erhabenheit“ wird lediglich dem Werk Ambrosius’ zugesprochen, denn „[n]ur die christliche Sittenlehre erfasst den ganzen Menschen“.3 Resümierend beurteilt Hasler den größten Vorzug von Ambrosius’ Schrift in der „Motivirung des Tugendstrebens durch den christlichen Glauben“ und kommt zu dem Ergebnis, dass Ciceros Werk zwar „eine Fülle von Wissen“ enthalte, aber „arm an Gedanken“ sei.4
Ähnlich klingt auch Leitmeirs Verdikt über Ciceros Leistung, wenn er ihm jegliche Selbstständigkeit auf dem Gebiet der Philosophie abspricht: „[Er mußte] sich vielmehr in allen spekulativen Erörterungen an griechische Muster anlehnen“.5 Trotz der Tatsache, dass sich Ambrosius zweifelsohne an Ciceros Schriftmuster anlehnte, wird jenem jedoch das Verdienst zugesprochen, „als der Erste die christliche Ethik in ihren Vorzügen und Gegensätzen gegenüber der sittlichen Anschauung des Heidenthums in helleres Licht gebracht und eine systematische Darstellung der christlichen Sittenlehre wenigstens versucht zu haben.“6 Auf diesem Hintergrund sei es Cicero unmöglich gewesen, ein wirklich ethisches Prinzip zu entwickeln, das nicht auf den Schöpfer Gottes als vollkommenes Gesetz zurückzuführen sei.
In der Ambrosiusforschung geht es nicht nur um seine Philosophie und Ethik, sondern auch um die schriftstellerische Leistung von Ambrosius, und Paul Ewald untersucht in seiner Dissertation 1881, inwiefern sich Ambrosius vom stoischen Muster Ciceros lösen konnte. Sein Urteil über Ambrosius’ schriftstellerische Leistung ist niederschmetternd. Ewald attestiert Ambrosius eine „notorische Unselbstständigkeit seines wissenschaftlichen Denkens“7. Zwar versuche dieser als Erster, eine konzise Darstellung der Ethik zu erarbeiten, doch sei diese nicht von innovativen Impulsen geprägt, sondern Ambrosius mache sich aufgrund der „aus seinem christlichen Bewusstsein geborenen Aeusserungen von seiner antiken Vorlage [...] abhängig.“8 Sogar die spezifisch christliche Bestimmtheit wird seinem Werk als Konsequenz seiner Abhängigkeit vom römisch-heidnischen Vorbild abgesprochen.9
Nur 14 Jahre später unterstreicht dagegen Raymond Thamin10 in einer umfangreichen Untersuchung gerade den christlichen Charakter des ambrosianischen Werkes. Auch Pierre de Labriolle11 bescheinigt Ambrosius zum einen die Übernahme heidnisch-ciceronischen Vokabulars, zum anderen jedoch auch eine Loslösung von Cicero und eine Verchristlichung der philosophischen Morallehre.
Die Forschung des 20. Jahrhunderts führt die Diskussionen um Ambrosius’ Selbstständigkeit und Ciceros philosophische Leistung fort. Jedoch interessieren sich nun, neben der theologischen, zunehmend auch die altphilologische und linguistische Disziplin für die Offizien von Cicero und Ambrosius. M.B. Emeneaus aufgrund seiner Kürze stark verdichteter Aufsatz12 behält den Ton der Kritik bezüglich Ambrosius’ Werk und Stil bei. Stilistisch schöne Wendungen suche man vergebens: „beauties of style, ornate rhetoric, figures of language have little place in Christian writings.“13 Jedoch ersetze die „inward form which was imposed upon language by the moral and spiritual enthusiasm of Christianity“ die äußere Form des Stils und der Rhetorik der klassischen Literatur.14 Nicht nur der rhetorische Wert der beiden Schriften, sondern auch das decorum wird erstmals unter philologischen und literarischen Aspekten genannt. Auch Ambrosius’ Auseinandersetzung mit Ciceros decorum-Begriff wird kurz gestreift. Dennoch ist Emeneaus Verdikt eindeutig: „Ambrose’s ethical work is in no way original. It suffers from too close adherence to its model.“15
Lotte Labowskys Dissertation16 über die Ethik des Panaitios aus dem Jahre 1934 zeigt zum ersten Mal, dass dem decorum-Begriff nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Komponente inhärent ist. Labowsky unterzieht die Paragraphen 93 bis 149 des ersten Buches von Ciceros Offizien-Bücher einer genauen linguistisch-philologischen Untersuchung. Mit Bezug auf andere De officiis Übersetzungen von beispielsweise C. Atzert (1923) deckt sie Kürzungen und logische Brüche in Ciceros Argumentation, Unvollständigkeiten linguistischer Art und Übersetzungsfehler auf. Am Ende dieser Untersuchung entwickelt Labowsky ein Schema der ciceronischen Komposition des decorum, das drei Aspekte hervorhebt: die begriffliche Grundlegung des decorum, die aus dem decorum entspringenden Pflichten und die Rücksicht auf das Urteil der Mitmenschen17. Im Vergleich mit Horaz’ decorum-Begriff wird außer dem ethischen auch der poetische Aspekt des decorum als Ordnungsprinzip analysiert. Die Tatsache, dass Lotte Labowsky den Schwerpunkt ihrer Untersuchung auf das decorum legt und ihre stringente Genauigkeit der Vorgehensweise machen dieses Werk auch 85 Jahre nach seiner Veröffentlichung zum Standardwerk für jede Untersuchung des decorum bei Cicero.