Wird das Telos in einer Rede durch eine Falschanwendung des ornatus nicht erreicht, so ist die Rede nicht nur stilistisch gescheitert, sondern hat auch das decorum als sozial-ethische Handlungsnorm außer Kraft gesetzt. Werden rhetorisch-ästhetische und rhetorisch-ethische Prinzipien nicht beachtet, kann die Rhetorik nicht mehr als größter Genuss für Ohr und Herz der Menschen triumphieren.30 Sie richtet dann ihre strahlenden Waffen gegen sich selbst und so kann der ornatus eine Rede sogar „entwerten und die Kraft der Gedanken, die sie enthält, gegen sie selbst richten.“31 Die rhetorische Kategorie ornatus erweist sich als eine glänzende, aber bipolare Waffe des Redners im öffentlichen Auftritt, da sie sich bei Falschanwendung auch gegen das Ethos des Redners selbst richten kann. Sie beweist ihre Schönheit und Kraft gerade im agonalen Umfeld des rhetorischen Wortkampfes, aber sie kann auch das Ethos eines Redners und dessen Überzeugungskraft zerstören.32
Wie lässt sich nun das Verhältnis des ciceronischen decorum und ornatus auf einer Metaebene beschreiben?
Das Faktum der Untrennbarkeit von decorum und ornatus lässt sich ganz besonders ontologisch anhand von Platons Ideenlehre zeigen. Um diesen Zusammenhang von ornatus und decorum auf der einen Seite und Platons Ideenlehre zu verstehen, sei zunächst dessen Konzept von Idee/Urbild, Abbild und Nachbild skizziert, um daran anschließend die Einordung von ornatus und decorum in die jeweiligen Ebenen der Wirklichkeit von Sprache darzulegen. Platons Zwei-Welten-Theorie, in der er die unvergängliche Welt der Ideen von der Welt des Vergänglichen unterscheidet, zeigt verschiedene Stufen im menschlichen Bewusstseinsprozess, der vom ungesetzten, objektiven Urbild (εἶδος (gr. Idee)) und einem nach diesem Urbild geformten Abbild ausgeht. Diese Interpretation einer Welt des Sichtbaren und einer Welt des lediglich dem Geiste, der Vernunft (νόησις) Zugänglichen präfiguriert die verschiedenen Abstufungen menschlicher Bewusstseinssetzung und Bewusstseinswerdung. Platons Begriffsbestimmung dient als Prolegomenon für weitere Auseinandersetzungen mit der wirklichen und der unwirklichen Welt des Menschen. Die Frage nach dem Wesen des Urbildes und seines Abbildes, nach dem wahrhaften Sein und dem bloßen Schein betrifft auch – schon zu Platons Zeiten – die Kunst (Politeia) und die Rhetorik (Phaidros/Gorgias). Was ist das Wesen einer Rede – Abbild, Schein oder Sein? Und welche Rolle spielen in dieser ontologischen Sicht das decorum und der ornatus?
Mit Hilfe des platonischen Höhlengleichnisses in der Politeia, in dem sich Platon der Erkenntnis und Unterscheidung des wahrhaft Seienden vom bloßen Schein widmet, soll dieser Frage weiter nachgegangen werden. Ähnlich wie den in der Höhle gefesselten Menschen werden den Zuhörern einer Rede Abbilder von Lebewesen oder Ereignissen vor Augen geführt, die sie selbst nicht als Zeugen geschaut haben. In der Höhle wirft das Feuer die Schatten an die Wand, in der Rede ist es die sprachliche Nachzeichnung des Redners. Die wirklichen Dinge, Personen oder Ereignisse können in ihrer Reinheit vom Auditorium in einer Rede selbst nicht wahrgenommen, jedoch als „Urbilder“ erkannt werden. Das Sein in seiner Reinheit kann nur objektiv, ohne jegliche extrinsische Darstellungsmöglichkeit durch Andere und nur durch die menschliche Vernunft erkannt werden. Es lassen sich so drei Ebenen der Wirklichkeit von Sprache bestimmen:
1 Urbild/Idee (εἶδος)
2 Abbild
3 durch Sprache geschaffenes Nachbild
Der ersten Stufe entspricht die intelligible Welt, die nur geistig, nicht materiell erfasst wird. In diesen Bereich gehören auch die Gedanken und das Denken des Menschen allgemein. Auf dieser Stufe ist das Sein in seiner Reinheit, seiner Unvergänglichkeit und Unveränderlichkeit nach Platon zu lokalisieren. Das Sein ist so jeglicher extrinsischen Darstellungsmöglichkeit und -wirklichkeit entzogen. Die Sprache als darstellendes Kommunikationsmittel hat hier keinen Platz, da das Urbild zwar jeder Sprache innewohnt, durch sie dennoch nicht darstellbar ist. Der Grund hierfür ist der Primat des Urbildes, der vor jedem Gegenstand der sichtbaren Welt existiert und als Urform fungiert. Als Vorstufe jeglicher Existenz auf Erden ist sie für den Menschen zwar erkennbar, aber nicht sprachlich mitteilbar. Denn die menschliche Seele hat nach Platon die Ideen in einem früheren Jenseits geschaut, beim Eintritt der Seele in den menschlichen Körper diese jedoch vergessen und erinnert sich nun im Diesseits wieder der Ideen (ἀνάμνησις). Das Sein des εἶδος oder der ἰδέα33 ist in der Präexistenz aller Dinge und Begriffe und wird erst in der Form des Abbildes in den konkreten natürlichen oder künstlichen Dingen zur mitteilbaren Existenz.
Die zweite Stufe umfasst die zweite Welt der sinnlichen Wahrnehmungen und des Körperlichen. Hierunter sind die verschiedenen künstlichen Dinge, wie Gegenstände, und die natürlichen Dinge, wie beispielsweise die Lebewesen einer Gattung zu klassifizieren. Sie alle sind in einer Kategorie je einem Urbild unterzuordnen. Dieses Verhältnis eines Urbildes zu seinen Abbildern ist das der Parusie. Der griechische Terminus ἡ παρουσία stammt vom Infinitiv πάρειμι (anwesend sein; teilnehmen an) ab und bezeichnet das Faktum der Teilhabe der Ideen in jedem Einzelding.34 So ist ein Gegenstand schön zu nennen, wenn ihm die Idee des Schönen innewohnt. Die Idee der Schönheit oder auch eines Lebewesens ist paradigmatisch in jedem konkreten Einzelding anwesend. Jedes Einzelding strebt laut Platon danach, durch Mimesis (ἡ μίμησις = Nachahmung) und Homoiosis (ἡ ὁμοίωσις = Angleichung) der jeweiligen Idee als normativer Instanz zu entsprechen. Dieses Streben eines jeden Einzeldinges ließe sich auch auf die Ebene der Sprache übertragen. Wie die jeweiligen Abbilder die Angleichung an das Urbild erstreben, so erstrebt auch die Sprache die Angleichung an das wahrhaft Geschehene, welches sie sprachlich nachzeichnet. Dieses Ordnungsprinzip ist nicht reziprok, sondern einseitig, indem sich das Abbild (εἴδωλον) am Urbild und die Sprache am Geschehenen orientiert. So kann Sprache nie das Sein in seiner Reinheit darstellen, sondern nur einen nach dem Sein strebenden Schein. Dazu bedarf es des ornatus. Er ist das Instrument, das den Schein mit dem wahren Sein auf sprachlicher Ebene konvergieren lassen kann.
Die dritte Stufe stellt die durch die sinnlichen Wahrnehmungen bewirkten kognitiven Vorstellungen und die Empfindungen dar. Diese durch Sprache bewirkten Bilder in den Köpfen der Menschen sind von den Abbildern der zweiten Stufe zu unterscheiden. Sie sind nicht mehr sichtbar, sondern nur kognitiv oder empfindend wahrnehmbar. Da sie lediglich in den Köpfen existieren und sich von den Abbildern der wirklichen Welt unterscheiden, sind sie gewissermaßen durch Sprache geschaffene künstliche Nachbilder. Im Gegensatz zur intelligiblen Welt der Ideen sind die künstlichen Nachbilder veränderlich. Diese künstlichen Nachbilder werden im Geist des Rezipienten aufgenommen und je nach der individuellen Wahrnehmung geprägt. Diese subjektive Aufnahme des künstlichen Nachbildes stellt für den jeweiligen Rezipienten dann das subjektive Scheinbild dar. Oder um es mit Platon zu sagen: „Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jeweiligen Seins.“35 In dieser dritten Stufe ist das wahre Wirkungsgebiet der Rhetorik zu finden. Wie der ornatus auf der zweiten Stufe eine Konvergenz von Sein und Schein realisieren kann, so kann das decorum auf der dritten Stufe sicherstellen, dass aus einem sprachlichen Schein, welches das reine Sein nachzubilden erstrebt, ein wahrscheinlicher Schein wird. Dieser Schein ist der wahrscheinlichste Schein, der nah am Sein zu sein ermöglicht. Das Prädikat der Wahrscheinlichkeit wird durch die rhetorische Kategorie des decorum erzielt, das die kreativen Zeichnungen des ornatus auf ein angemessenes und glaubhaftes Maß beschränkt. Idealiter macht das decorum folglich das vom ornatus erschaffene Nachbild glaubwürdig, indem das decorum das Scheinen angemessen macht. Durch die Verwendung von Sprachstilen und Formulierungen, die den Gegenständen oder Ereignissen entsprechen, die sie beschreiben, wird der sprachlichen Nachzeichnung des Abbildes Glauben geschenkt. Wie Timaios im gleichnamigen Dialog Platons darlegt, ist den Menschen als finiten Wesen allein die wahrscheinliche Erzählung möglich:
Wundere dich also nicht, o Sokrates, wenn wir in vielen Dingen über vieles, wie die Götter und die Entstehung des Weltalls, nicht imstande sind, durchaus und durchgängig mit sich selbst übereinstimmende und genau bestimmte Aussagen aufzustellen. Ihr müßt vielmehr zufrieden sein, wenn wir sie so wahrscheinlich wie irgendein anderer geben, wohl eingedenk, daß mir, dem Aussagenden, und euch, meinen Richtern, eine menschliche Natur zuteil ward, so daß es uns geziemt, indem wir die wahrscheinliche Rede über diese