Die normative Kraft des Decorum. Sophia Vallbracht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sophia Vallbracht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001666
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decor, -is“ maskulin für „Zierde, Anmut, Schicklichkeit“, als auch der Nominativ oder Akkusativ Singular des Adjektivs „decorus, -a, -um“ für „geziemend, anständig, schicklich“ und des Nomens „decorum, -i“ Neutrum für „Anstand, Schicklichkeit“. Obwohl Cicero als die Quelle des römischen decorum-Begriffes gilt, darf doch das älteste Handbuch der Rhetorik – das zunächst im Mittelalter und in der frühen Renaissance fälschlicherweise auch Cicero zugeschrieben worden ist – die Rhetorica ad Herrenium nicht übergangen werden. Dieses vierbändige Werk, welches in detailgetreuer Genauigkeit die Rhetorik als Technik der Rede darstellt, behandelt in Buch IV die systematische Stillehre in latei­nischer Sprache und unter der Rubrik „ornatus“ das decorum als den Teil der rhetorischen Kunst, der eine Rede schön zu machen vermag. Das decorum als Stilgröße wird in IV, 17 bestimmt als Vornehmheit im Geschmack (elegantia), als künstlerische Komposition und als ästhetische Vornehmheit (dignitas). Dieser Definition des decorum liegt immer auch eine implizite Vorstellung von Schönheit zugrunde, was Thomas Kranidas veranlasst, von einer „surface propri­ety“ zu sprechen.1

      Das Verdikt über ein decorum-Konzept als bloßer ästhetischer Größe verkennt jedoch dessen komplexe Natur a priori. Es ist dabei Ciceros Verdienst, das decorum als stilistisches Rhetorikprinzip zu einem rhetorisch-ethischen Konzept erweitert und entwickelt zu haben. Indem Cicero in seinem decorum-Begriff den rhetorischen und moralischen Aspekt miteinander zu verbinden versucht, gelingt es ihm auch im Kleinen, das große Schisma von Philosophie und Rhetorik, das sich durch Sokrates aufgetan hat, zu überbrücken.

      Während das decorum in der Rhetorikgeschichte vor allem als ästhetisches Stilideal bekannt ist, erfährt es bei Cicero nun eine neue Bestimmung: Es wird zu einer ubiquitär wirkenden ethischen Handlungsnorm des Menschen in der Gesellschaft erhoben. Da Cicero als praktizierender Politiker das wahre Einsatzgebiet der Rhetorik in der Politik und der societas sieht, holt er die Rhetorik aus ihrem formalen Konzept und integriert sie in das soziale Leben der Römer. Das decorum ist als rhetorisches und soziales Prinzip bestimmt, das eine enge Verbindung mit dem Moralischen (honestum) eingeht. Wie im 3. Kapitel dieser Arbeit en détail beschrieben wird, wirkt das decorum bei Cicero auch in den verschiedenen virtutes nach, die in der römischen Vorstellung von einer funktionierenden Gesellschaft gemäß der mores maiorum ihren festen Platz haben. So kann das ciceronische decorum zum einen gleichbedeutend sein mit dem sophistischen καιρός, aber auch mit honestum, iusta (off. I, 94) oder proprium (off. I, 2 und I, 113) je nach rhetorisch-sozialem Anwendungsgebiet. Trotz seiner vielfältigen Konnotationen – oder gerade deshalb – ist das ciceronische decorum der Garant für Ordnung, Maß und Harmonie im römischen Leben und wird in off. I, 31 als Teil der „fundamenta iustitiae“ bestimmt.

      Angesichts der definitorischen Dominanz von decorum als ethischer Handlungsnorm in Rhetorik und Gesellschaft, ist es für die begriffliche Klärung2 von Bedeutung, dass Cicero, um über die stilistische Angemessenheit einer Rede zu sprechen, einen weiteren Begriff verwendet: das aptum. Das innere aptum bezeichnet dabei die kohärente Angemessenheit der Rede selbst, während das äußere aptum den externen Bezugsrahmen, wie die örtlichen Gegebenheiten, das anwesende Publikum und das Setting3 der Rede umfasst. Das aptum beschreibt bei Cicero eine rein rhetorische Handlungsnorm; das decorum erweitert dieses Spektrum ins ethische Wirkungsgebiet des rhetorisch handelnden Menschen in der societas allgemein.4 Im Orator, 70 betont er die ubiquitäre Bedeutung des decorum für das menschliche Reden und Leben, das wie die Redekunst auf der Weisheit (sapientia) basiert. Trotz aller Regeln muss der Redner das decorum erkennen, wozu ihn die Weisheit befähigt. Aufgabe des Redners ist es, sich auf die sechs phänomenologischen Variablen des decorum einzustellen: Umstände (tempus ac locus), Redegegenstand (res), Orator, Rezipienten (auditorum), Klienten und Redegegner. Doch nicht nur diese Bedingungen einer angemessenen Rede sind im rhetorischen Fallkalkül zu analysieren, sondern besonders das angemessene Verhältnis von Inhalt und sprachlichem Ausdruck wird im Orator, 72f. als die Hauptregel des decorum aufgeführt. Diese konstitutive Wechselseitigkeit von res und verba wird qua decorum verwirklicht. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Cicero in großen Teilen in off. (vgl. Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit) und de orat. (I, 144/III, 23-25/III, 37 und 53) dem Verhältnis von ornatus und decorum widmet. In de orat. III, 212 ist die Fähigkeit des Redners, einer Rede den angemessenen Stil zu verleihen, mit dessen Kunstfertigkeit (facere artis), Begabung (natura) und praktischen Klugheit (prudentia) untrennbar verbunden. In De oratore (III, 76 und 80/III, 91) preist Cicero die wahre Rhetorik und den wahren Redner, welcher als Krönung der Rhetorik sich wirkungsvoll und angemessen auszudrücken vermag: „[D]icere caput esse artis decere5. Im Brutus (292) veranschaulicht Cicero dieses Konzept am Beispiel von Sokrates, der sich stets bescheiden verhielt und wegen des Vorwurfs der Asebie verhaftet worden war. Dieser weigerte sich zu fliehen, weil er auch im Angesicht des Todes unverbrüchlich zu seinen Lebensprinzipien stand. Das ciceronische decorum umfasst ergo mehr als ein angemessenes Zeit- und Stilgefühl für eine Rede, es umfasst die rhetorische Performanz gemäß des Wissens- und Bildungsstandes eines Redners und wirkt als ethische Handlungsnorm in der Kunst des Redens und allgemein im Leben.

      Horaz’ Ars poetica nimmt Ciceros Prägung des decorum auf und fügt dem ethischen decorum das ästhetische decorum im Wirkungsbereich der poetischen Angemessenheit hinzu. Zwar findet sich in Horaz’ berühmten Römeroden das decorum, wie auch bei Homer, als Heroenkodex für tapfere Kämpfer, die im Kampf ihr Leben für das Vaterland geben (III, 2, 11-13), doch ist es seine poetische Lehrschrift, die das decorum für dichterische Werke und für die Person des Dichters anwendbar macht. Qua phänomenologischer Zweiteilung erfährt das decorum bei Horaz ein rhetorisches Gepräge, indem gerade diese Unterscheidung von ästhetischem und ethischem decorum diese zwar gattungstechnisch trennt, doch inhaltlich verbindet. So harmoniert die Forderung an den Dichter, ein gelehrter Nachahmer vorbildlicher Charaktere zu sein (318), mit der Forderung, seine Dichtung an die Wahrheit anzupassen (338). Wenn Einheit, Geschlossenheit des Werkes (23) und Sinnlichkeit als Mittel der Veranschaulichung von Emotionen (180-182) gefordert werden, schließt dies ein, den Stil dem Alter und Charakter der involvierten Person (178) anzupassen. Und schließlich wird das Diktum des scibendi recte (309) als poietisches Ziel des Dichters vor Augen geführt, der sich seiner Stellung innerhalb der menschlichen Gesellschaft als Herausragender unter den Menschen bewusst sein muss und dem als rheto­rische Wirkungsfunktion das docere und delectare zugeordnet wird. „Recte“ umfasst hier virtus und decorum und ist somit nicht auf den alleinigen stilistischen Aspekt einer Dichtung beschränkt, sondern bezieht die moralische Konnotation von τὸ ὀρθόν mit ein.6 Selbst angesichts der Tatsache, dass ein Dichter über ingenium für die Poetik verfügt, muss sich zu diesem Kunstverstand, der sich graduell entwickelt hat, Lernen, Üben und Arbeiten gesellen (409-410), will er „richtig schreiben“. In Horaz’ holistischer Konzeption des poietisch Angemessenen sieht Lotte Labowsky alle drei Bedeutungen des altgriechischen πρέπον-Konzeptes berücksichtigt und vertreten: „das πρέπον, das sich auf die dichterische ἠθοποιία und das rhetorische, das sich auf die Nuancierung des Sprachstils und die εὐκαιρία bezieht.“7

      Nach Cicero und Horaz ist Quintilian zu nennen, der zwar in weiten Teilen Ciceros Auffassung von decorum teilt, jedoch auch einen weiteren bedeutenden Aspekt für das Verständnis des römischen decorum bereithält: decorum als sinnlich erfahrbares Wissen.

      In der Taxonomie Quintilians ist der Begriff des decorum eng mit decor, ornatus, pulchrum und aptum verbunden. Es bezeichnet eine ästhetische Tugend, die ethisch wirkt. So definiert Quintilian das „apte dicere“ als die vierte Tugend der elocutio, die sich stark am Rezipienten – respektive den Richtern – zu orientieren hat. Sein decorum-Konzept ist rhetorisch und ethisch fundiert, „quid conciliando, docendo, movendo iudici conveniat“8. Diese Mehrdimensionalität des decorum wirkt bereits in der inventio (XI, 1, 7) und setzt den Nutzen mit dem decorum