Dem Horaz-Sprecher ist klar, dass diese Nervensäge auf keinen Fall zum Maecenas-Kreis gehören darf. Daher wird die diametrale Distanz zu ihm stark betont: Der Freundeskreis um Maecenas basiert auf wahren Werten und gleicht einer Familie, in der es keinen Platz für Hintergedanken, Angeberei und Neid gibt (domus hac nec purior ulla est | nec magis his aliena malis, 49f.) – ‚Übel‘, die Horaz deutlich am garrulus erkennt. Diese Distanz lässt sich gut mit derjenigen vergleichen, die der Horaz-Sprecher in Satire 1,6 gegenüber dem neidischen und auf Äußerlichkeiten fokussierten volgus zum Ausdruck bringt. Der garrulus verrät alle Erwartungen und Einstellungen des volgus aus der sechsten Satire und wird so zu einer Figur, welche die bedrohlichen vitia (Neid und Misstrauen) verkörpert.
Der garrulus überfällt den auf nugae konzentrierten Ich-Sprecher und stört damit dessen Gedankenwelt und poetische Muße schon im dritten Vers. Er verhält sich angeberisch und aufdringlich. Es wird sofort klar, dass seine Eigenschaften auf einem falschen Verständnis von qualitativ hochwertiger Dichtung basieren (6‑34), so dass der Sprecher seine Verzweiflung betont (35‑43). Ab Vers 43 offenbart der garrulus endlich, was ihn zu Horaz treibt: Er versucht, sich dem Freundeskreis des Maecenas zu nähern. Dies wird humorvoll inszeniert, als er aufdringlich nach dem Wesen des Verhältnisses zwischen Horaz und Maecenas fragt und selbst eine Antwort auf die Frage gibt, die sein falsches Verständnis und zudem seine Annäherungsstrategie naiv bloßstellt (sat. 1,9,43‑60):Horazsat. 1,9,43-60
‘Maecenas quomodo tecum?’ | ||
hinc repetit. ‘paucorum hominum et mentis bene sanae.’ | ||
‘nemo dexterius fortuna est usus. haberes | 45 | |
magnum adiutorem, posset qui ferre secundas, | ||
hunc hominem velles si tradere: dispeream, ni | ||
summosses omnis.’ ‘non isto vivimus illic, | ||
quo tu rere, modo; domus hac nec purior ulla est | ||
nec magis his aliena malis; nil mi officit, inquam, | 50 | |
ditior hic aut est quia doctior; est locus uni | ||
cuique suus.’ ‘magnum narras, vix credibile.’ ‘atqui | ||
sic habet.’ ‘accendis quare cupiam magis illi | ||
proximus esse.’ ‘velis tantummodo: quae tua virtus, | ||
expugnabis: et est qui vinci possit eoque | 55 | |
difficilis aditus primos habet.’ ‘haud mihi dero: | ||
muneribus servos corrumpam; non, hodie si | ||
exclusus fuero, desistam; tempora quaeram, | ||
occurram in triviis, deducam. nil sine magno | ||
vita labore dedit mortalibus.’ | 60 |
Im Mittelpunkt steht der vom Horaz-Sprecher betonte Kontrast zwischen der auf inneren Werten basierenden Natur des Maecenas-Kreises und der angeberischen, korrupten Natur des lästigen Gesprächspartners. Dies lässt sich gut an den evasiven Antworten des Horaz-Sprechers beobachten, die er auf die eindringlichen Fragen und Vorschläge des garrulus gibt. Die Hintergedanken, die er bei seinem Gesprächspartner erkennt (his aliena malis, 50), helfen, die „Familie“ (domus) um Maecenas kontrastiv darzustellen:6 Weder Geiz noch Neid hätten dort Platz; es handle sich vielmehr um eine geistige Verbundenheit, um eine aufrichtige amicitia also, in der jedes Mitglied einen Platz habe, so dass politische Macht oder Geldvermögen keine Rolle spielen würden (51f.).
Nicht nur bietet sich der garrulus großsprecherisch als magnus adiutor bei Horaz an (45f.), sondern er versucht auch, seine Hintergedanken zu verbergen, indem er vorgibt, die gleiche innere Ausrichtung wie sein Gesprächspartner verfolgen zu wollen (53ff.). Mit der ironischen Antwort des Horaz-Sprechers in Vers 54f. wird evident, dass Horaz ihn moralisch und literarisch als ungeeignet durchschaut hat. Die Nervensäge disqualifiziert sich auch dadurch, dass sie die Ironie nicht erkennt und darauf insistiert, in den Maecenas-Kreis eindringen zu wollen (56ff.). Der quidam wirkt damit, wie in der Forschung schon bemerkt, als Karikatur eines Komödienparasiten7 – gleichzeitig aber auch als Karikatur eines schlechten Klienten, der um einen Patron wirbt.8
Darüber hinaus lassen sich in der Beschreibung des Maecenas in dieser Passage weitere Anknüpfungen an Satire 1,6 beobachten, die von der Bedeutung der inneren Werte beim (Abhängigkeits-)Verhältnis handeln: So wie Maecenas etwa in sat. 1,6,63Horazsat. 1,6,63 Sicherheit in der moralischen Bewertung bescheinigt wird (turpi secernere honestum), so wird er nun als paucorum hominum et mentis bene sanae (1,9,44) bezeichnet – dass dies die Schlussfolgerung impliziert, dass der garrulus offenbar den Typus des turpis darstellt, ist evident. Denn die Mittel, mit denen der garrulus versichert, sich Maecenas nähern zu wollen, stehen in diametralem Gegensatz zu denen, auf welche sich Horaz in sat. 1,6 bei seiner Aufnahme in amicorum numero gefreut hatte: Standen dort innere Werte, die in Adjektiven wie pudicus (82), honestus (63), purus (64, 69) oder insons (69) Niederschlag fanden, im Mittelpunkt des Diskurses (Hor. sat. 1,6,54ff.)Horazsat. 1,6,53ff. und bestand er darauf, seine Aufnahme in den Maecenas-Kreis keinesfalls durch casus oder fors (1,6,53f.) zu erreichen, sondern durch seine innere Aufrichtigkeit,9 so gibt der garrulus hier zu, genau casus und fors erzwingen zu wollen, und geht dabei unverschämt vor (sat. 1,9,57‑59): muneribus servos corrumpam; non | … desistam…, | occurram in triviis, deducam – seine fehlende virtus ist offenkundig. Der gleich danach pathetisch vorgebrachte Satz, der als Höhepunkt die Passage beschließt, erzielt damit einen widersprüchlichen Effekt. Denn das bis in die Gegenwart nachklingende, gnomische Apophthegma nil sine magno | vita labore dedit mortalibus (1,9,59f.)10 wirkt aus dem Mund eines solchen turpis garrulus frech. Das Gespräch wird sodann durch Fuscus Aristius’ Auftritt abgebrochen (60ff.), der ebenso die Natur des garrulus kennt (sowie die unüberwindliche Abneigung, die Horaz gegen diesen empfindet). Er will Horaz nicht helfen, weil er in der hilflosen Situation seines Freundes schwelgt, was die Szene noch humorvoller gestaltet.11
Melters bemerkt überzeugend,12 dass der garrulus eine Figur verkörpert, „die im Kern ihres Charakters jene ethischen, ästhetischen und der Gattung der Satire potentiell inhärierenden Verfehlungen repräsentier[t], von denen sich Horaz in seinem bisherigen