Doch Zöfgen ging in seiner Kritik noch weiter, indem er der Sprachlehrforschung vorwarf, ihr wissenschaftsmethodisches Konzept berge die Gefahr in sich, in eine „empiristische Forschungshaltung“ abzugleiten, die sich mit dem „Datensammeln“ und der „paraphrasierenden Deskription von Unterrichtswirklichkeit“ begnügt. Er warnte davor, „dass durch Deskription des ’Ist-Standes’ die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen L2-Lerner überhaupt erst die Befähigung zum erfolgreichen Umgang mit der Fremdsprache erlangen, zunehmend zu einem marginalen Faktor verkümmern“ (Bausch / Königs 1986, 170sqq.). Der Streit entzündete sich außerdem an der sog. ’Faktorenkomplexion’54, zu der G. Henrici kategorisch feststellte:
Die bombastische Forderung nach Erfassung der im Fremdsprachenunterricht wirksam werdenden Faktorenkomplexion sollte aufgegeben werden zugunsten von Zielsetzungen, die bescheidener und empirisch überprüfbar sind. Es geht darum, systematisch und progressiv Teilschritte in einem Gesamtzusammenhang zu entwickeln und abzuarbeiten (Bausch / Königs 1986, 41sq.).
Das Bemühen um die eigene Profilierung auf Kosten des Gegners hat hier zweifellos eine Rolle gespielt. Die Fremdsprachendidaktik hat von dieser Auseinandersetzung jedenfalls nicht profitiert, und zwar vor allem deshalb nicht, weil die Bielefelder Gruppe in ihrer eigenen Forschungspraxis dem theoretisch formulierten Anspruch noch weit weniger genügen konnte. Es lohnt sich, hierauf etwas näher einzugehen.
Henrici und Zöfgen widmeten sich in einem empirischen Projekt folgender Fragestellung: „Sind kontextuelle Verfahren der Worterklärung den sog. nicht-kontextuellen Erklärungen sowohl beim Verstehen als auch beim Behalten überlegen?“ (Henrici / Kostrzewa / Zöfgen 1991). Sieht man von der fragwürdigen methodischen Durchführung ab55, so entlarvt sich die Untersuchung allein schon durch ihre Fragestellung als kontraproduktiv, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens wird ein unterrichtspraktisches Problemfeld suggeriert, das keines ist. Die Autoren beanspruchen, einen Beitrag zur Verbesserung der Praxis zu leisten. In der Praxis bestehe die unbefriedigende Situation, dass die Lehrenden „sich häufig einer ganzen Palette von Explikationsmöglichkeiten“ bedienten, weil die Forschung noch keine „gesicherten Erkenntnisse bereitgestellt“ habe in Bezug auf die „Effizienz bestimmter methodischer Maßnahmen“ (op.cit., 33sq.). Diese Begründung geht von einer Fehleinschätzung der Situation aus. Die Palette von Möglichkeiten, die Bedeutung eines unbekannten Wortes zu erklären, ist in der Tat sehr groß. Sie reicht vom muttersprachlichen oder auch anderssprachigen Äquivalent über Gestik und Mimik oder bildliche Darstellung bis zu Kontext, Definition, Umschreibung, Synonym, Antonym und Ableitung. Nur: Für den Praktiker stellen diese verschiedenen Möglichkeiten kein wirkliches Problem dar. Sie werden vielmehr methodisch genutzt, um die jeweils adäquate, d.h. dem Sprachmaterial, der Unterrichtssituation und der Lerngruppe angemessene Erklärung zu geben. Welche Erklärungsmöglichkeit jeweils am besten ist, wird aus Erfahrung entschieden. Es kann gar nicht empirisch ermittelt werden, weil die Bedingungen für die ’beste’ Erklärung von Fall zu Fall variieren.
Wir haben es also mit einer typisch irrelevanten Fragestellung zu tun56, bei der die Reduzierung der Faktorenkomplexion auf einige Einzelfaktoren in einer Verzerrung der unterrichtlichen Problemlage mündet. Schon in den frühen 80er Jahren wurden gelegentlich unter dem Stichwort „entbehrliche Forschung“ ähnliche Vorwürfe laut.57 Die hier lauernden Gefahren scheinen der empirischen Unterrichtsforschung als solcher immanent zu sein. Schon Th. W. Adorno bemängelte in Bezug auf die empirische Sozialforschung den „Primat der Methode über die Sache“, so dass die Methode „zum Fetisch zu entarten“ drohe. „Anstelle der Dignität der zu untersuchenden Gegenstände tritt vielfach als Kriterium die Objektivität der mit einer Methode zu ermittelnden Befunde, und im empirischen Wissenschaftsbetrieb richtet sich die Auswahl der Forschungsgegenstände und der Ansatz der Untersuchung […] weit mehr nach den verfügbaren und allenfalls weiterzuentwickelnden Verfahrensweisen als nach der Wesentlichkeit des Untersuchten. Daher die unzweifelhafte Irrelevanz so vieler empirischer Studien“ (Adorno 1976, 514). Die Fremdsprachendidaktik scheint in ihrer Entwicklung dieser Gefahr nur allzu oft erlegen zu sein.58 Auf jeden Fall konnten die Ergebnisse insgesamt59 das Versprechen, der Unterrichtspraxis wissenschaftlich fundierte Handlungsanweisungen zu geben, nicht erfüllen.
6.2 Perspektiven für die Zukunft
Der eigentliche Grund für die Fehlentwicklung liegt jedoch in einem weiteren verhängnisvollen Missverständnis, das in folgender programmatischen Aussage zum Ausdruck kommt:
Erst wenn wir wissen, wie fremdsprachliches Lernen funktioniert, sind wir in der Lage, daraus begründete Vorschläge für die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts abzuleiten (Königs 2013, 11).
Dieses aktuelle Zitat erinnert an die bekannte Formulierung aus der Frühzeit der Sprachlehrforschung, dass es darum gehe, herauszubekommen, „was in den Köpfen von Lernern vorgeht“ (wieder zitiert bei Hallet / Königs 2010, 11). Die Frage muss jedoch in dem Augenblick als grundsätzlich falsch gestellt erscheinen, wo man das unterrichtlich gesteuerte Lernen nicht als eigengesetzlichen Lernprozess begreift, sondern als abhängig von den Bedingungen, die der Unterricht bereitstellt. Die empirischen Ergebnisse der Unterrichtsbeobachtungen können demnach gar nicht zeigen, wie ‚Lernen‘ funktioniert, sondern nur, wie Lernende unter den konkreten Bedingungen des jeweils untersuchten Unterrichtsfeldes agiert haben.60 Es ist die Wechselwirkung zwischen Lehren und Lernen, die für fremdsprachliche Unterrichtsforschung zentral ist. Sobald diese Tatsache wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, kommen weitere konstitutive Faktoren in den Blick, die in den letzten 50 Jahren von der Forschung vernachlässigt wurden.
6.2.1 Infrage Stellung tradierter Curriculum-Entscheidungen
Fremdsprachlicher Unterricht ist – im Gegensatz zu ungesteuertem Spracherwerb – durch eine Reihe von Entscheidungen geprägt, die alle gleichermaßen in einer systematischen Analyse berücksichtigt werden müssen. Dazu gehören neben dem methodischen Aspekt (dem Wie der Vermittlung) zuvörderst die sog. curricularen Entscheidungen, die die Zielvorstellung (das Wozu) und den Gegenstand oder Inhalt (das Was) betreffen. Auch wenn die curricularen Entscheidungen durch übergeordnete bildungspolitische Gremien getroffen werden, folgt daraus nicht, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Entscheidungen unterbleiben kann oder darf. Selbst das unterrichtliche Lehr-/Lernziel, das im Zuge einer gesellschaftlichen Setzung61 erfolgt, bedarf in seiner Formulierung und Interpretation der wissenschaftlichen Durchleuchtung.62 Das konsensfähige Ziel des heutigen Fremdsprachenunterrichts kann allgemein etwa als „Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit oder Befähigung zur Verständigung im Kontext der fremden Sprache und Kultur“ bezeichnet werden und hat als solches eine prioritäre Funktion. Das Was und Wie des Unterrichts bestimmt sich nach dem, was letztlich erreicht werden soll.
Gegenstand oder Inhalt scheinen ebenfalls schon vor allem Unterricht festgelegt zu sein, und zwar von Generation zu Generation tradiert in Lehrplänen und Lehrbüchern. Eine ernsthafte wissenschaftliche Hinterfragung dieser schwerwiegenden curricularen Entscheidungen durch die fremdsprachendidaktische Disziplin ist bis heute unterblieben. Dabei hätte die Entdeckung der sog. „pragmatischen Dimension“ (cf. Hüllen 1973) und die sog. „kommunikative Wende“ (cf. Piepho 1974) der Diskussion über Inhalte neue Impulse geben können, indem sie die Aufmerksamkeit „von dem scheinbar alles auf sich versammelnden Fokus der Syntax auf […] den Sprachgebrauch“ (Hüllen 1973, 96) gelenkt hätte, doch das theoretische wie praktische Festhalten an dem Postulat einer systematischen Progression verhinderte eine voraussetzungslose Neuorientierung.63 Erinnert sei hier jedoch an das Positionspapier Barrera-Vidals von 1981, der dort die Klärung des Verhältnisses „zwischen dem neuen Prinzip einer kommunikativen Progression und den traditionellen Grundsätzen einer lexikalischen und grammatischen Progression“ als „dringendes Desiderat“ der Forschung angesprochen hatte (cf. Kapitel