Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik. Miriam Preußger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Miriam Preußger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000508
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seiner Lehrerin, die Fähnchen auf einer Landkarte platziert, die die ursprünglichen Familienherkunftsorte markieren, gefragt, wohin »Cenks Fähnchen« gesetzt werden solle (A 00:04:44). Nachdem Cenks erste kindliche Antwort (»Deutschland« (A 00:04:48)) von der Lehrerin indirekt verneint wird (»Ja, ja, das stimmt schon. Aber wie heißt das schöne Land, wo dein Vater herkommt?« (A 00:04:49)), sagt er: »Anatolien« (A 00:04:54). Die Karte endet allerdings vor Anatolien. Cenks Fähnchen wird auf einem abgegrenzten, verworfenen, unbestimmt-leeren, nicht-intelligiblen Außen platziert (Abb. 1). Sein Herkunftsort wird als solcher unsichtbar und verleugnet. Der Preis für eine klare Grenzziehung, topografische Identität ist die Verleugnung der gemachten Grenzziehung und der Ausschluss des Anderen. Ein Klassenkamerad Cenks gibt – wie im Laufe des Films aufgedeckt wird – fälschlicherweise Istanbul (europäischer Teil) anstelle von Anatolien an und verhindert somit eine Exklusion, und in Folge dessen eine normative Diffamierung oder Verleugnung. Er erhält so einen sichtbaren »Körper von Gewicht« (Butler).

      Abb. 1 (A 00:05:12) Platzierung von Cenks Fähnchen zur Kennzeichnung des Herkunftsortes im undefinierten Außenbereich im Unterschied zum definierten Innenbereich

      Im Abspann des Films bittet nun Cenk seine Lehrerin, die Landkarte durch eine Karte, die Anatolien umfasst, zu ergänzen (Abb. 2). Nach dieser Ergänzung der historisch gemachten Grenzen befindet sich Cenks Fähnchen im inneren Bereich und nicht mehr im äußeren, abgegrenzten weißen »Nichts«, und auch Engin, der zunächst seine Heimat fälschlich angegeben hat, um einen Platz zu bekommen, kann seinen wahren Herkunftsort preisgeben, ohne der Schmach des Nicht-Teilnehmenden ausgesetzt zu sein.

      Abb. 2 (A 01:33:31) Grenzverschiebung durch Erweiterung des definierten Innenraumes und sukzessive Sichtbarmachung und Inklusion der ehedem undefinierten Herkunftsorte

      Identitäten – im konkreten Fall der vorliegenden Arbeit: familiale Identitäten, und damit Familienpolitiken – sind also grundsätzlich verschiebbar.

      In Vertiefung zum diskursanalytischen Theoriedesign sensu Foucault richtet sich die medienkulturwissenschaftliche Perspektive auf medienkulturelle Zeigbarkeiten und nicht (nur) auf die Erfassung von diskursiven Aussagen respektive Sagbarkeiten, wie sie Diskursanalyse ausmacht. In diesem Sinne konstatiert Kammler: »Das Geschäft der Archäologie ist es, […] einzelne Aussagegruppierungen (›diskursive Formationen‹) zu beschreiben, die den Bereich des Sagbaren in konkreten Feldern des Wissens begrenzen [Hervorhebungen M.P.].«25 Eine medienkulturwissenschaftliche Vertiefung diskursanalytischen Theoriedesigns findet insbesondere dort statt, wo ganz explizit die Eigenschaften von Medien in Anlehnung an jüngere Medientheorien (Mann, Zierold, Krämer) angewendet werden.

      Nun mag zugegebenermaßen die Annahme, Diskursanalyse sei ausschließlich beschreibend, etwas zu kurz greifen. Weiterhin lässt sich kritisch ins Feld führen, dass Foucault zwar nicht expressiv verbis einen vollends theoretisch ausgearbeiteten Medienbegriff konturiert, aber doch in hohem Maße mit Medien arbeitet. Jahraus hält fest: »Man kann das gesamte Foucaultsche Projekt einer Diskursanalyse als Proto-Medientheorie lesen«26.

      Gegen eine Identifikation von Diskursanalyse und Beschreibung von Sagbarkeiten lässt sich Bührmanns These anführen, dass »Foucault Diskurse nicht rekonstruiert, sondern zuerst konstruiert«27. Hinsichtlich einer proto-medientheoretischen Perspektive bereits bei Foucault kann überdies in der Tat gesagt werden, dass künstlerische und literarische Manifestationen der jeweils interessierenden Epochen gerade einschneidende, markante, schwellenmarkierende Aufgaben übernehmen:

      »Schon in Wahnsinn und Gesellschaft deutet sich […] an, dass Foucault dazu tendiert, Epochenschwellen über künstlerische und literarische Manifestationen einzuführen. Insofern übernimmt die Interpretation von Rameaus Neffe in Wahnsinn und Gesellschaft eine ähnliche Funktion wie die des Don Quijote oder des Werkes des Marquis de Sade in Die Ordnung der Dinge.«28

      Wesentlich deutlicher als Foucault referiert Butler in Raster des Krieges29 auf mediale Sichtbarkeit und das heißt: auf Zeigbarkeit. Sie fokussiert auf »Bedingungen der Wahrnehmbarkeit«30, »die Begrenzung der Sphäre des Erscheinens«31, »Möglichkeitsbedingen des Sichtbarwerdens«32, »visuelle und diskursive Rahmen«33, (mediale) »Repräsentierbarkeit«34. Die Arbeiten von Butler und Foucault sind besonders gut medienkulturwissenschaftlich anwendbar, und Butler fokussiert dezidiert in Raster des Krieges auf mediales Zeigen/Nicht-Zeigen:

      »Daher lässt sich das Feld der Repräsentierbarkeit nicht verstehen, indem wir einfach seine expliziten Inhalte untersuchen, denn es wird grundlegend gerade durch das Ausgesparte konstituiert, durch das, was außerhalb des Rahmens bleibt, innerhalb dessen Repräsentationen in Erscheinung treten. […] Den innerhalb des Rahmens gezeigten Geschehnissen und Handlungen geht eine aktive, wenn auch unbemerkte Abgrenzung des Feldes selbst und damit ganz bestimmter Inhalte und Perspektiven voraus, die nie in Erscheinung treten und die auch nicht gezeigt werden können.«35

      Auf der anderen Seite muss jedoch auch hinzugefügt werden, dass doch Butlers Überlegungen in Raster des Krieges buchstäblich in die Form eines Essays36 und eben nicht in die Form einer reinen Diskursanalyse gebracht werden. Es lässt sich nicht behaupten, dass Medienkulturwissenschaft als Diskursanalyse und vice versa betrieben wird. Die Annahme einer Symmetrie zwischen den beiden Konzeptionen wäre ein theorielogischer Kurzschluss37. Damit geht einher, dass hier gelegentlich abschnittsweise ein je medienkulturwissenschaftlicher oder diskursanalytischer Fokus vorhanden ist. Zwar ist wohl Diskursanalyse in der Umsetzung nicht ausschließlich deskriptiv im Sinne einer reinen Feststellung von Sagbarem. Weiterhin werden selbstverständlich auch mediale Aspekte in einer Diskursanalyse aufgearbeitet. Gleichwohl verschiebt die medienkulturwissenschaftliche und mediensyntagmatische Perspektive die diskursanalytische Tendenz der beschreibenden Feststellung von Aussagegruppierungen38 zugunsten der Zusammenstellung von medial-performativen Zeigbarkeiten in der Medienkultur. Der Mehrwert der medienkulturwissenschaftlichen Perspektive im Methodendesign wird darin festgemacht, dass dezidiert neuere Medientheorien (Mann, Zierold, Krämer) und daran anschließende Potenziale verarbeitet werden. So geht es explizit darum, dass Medien wahrnehmbar machen39. Im Rekurs auf Mann ist darüber hinaus die selbstbedingende Passung der Medien, »nicht rein unauffällig (störungsfrei)«40 zu funktionieren, medienkulturwissenschaftlich anwendbar. Schließlich können in Anlehnung an die von Zierold konturierte Doppelrolle von Medien als erinnerungsbasierte Resultate und Formulierungen von Voraussetzungszusammenhängen41, die medienkulturell zeigbar sind, gesellschaftliche Konstitutiva ermittelt werden.

      Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Arbeit sich zum Ziel setzt, in einer an Foucault und Butler angelehnten Diskursanalyse familienpolitische Manifestationen der Gegenwart in unserer Medienkultur herauszuarbeiten, wovon auch andere Disziplinen profitieren könnten, und zwar insofern, als die betrachteten vielfältigen medialen Arrangements »Kontroversen um Gesellschaftsentwürfe und Menschenbilder«42 durchspielen, herausheben und insbesondere wahrnehmbar machen43. Der Medizinethiker Johann S. Ach betont gerade die Notwendigkeit, über die Technologien (an sich) hinauszugehen und gesellschaftliche und anthropozentrische Konzeptionen zu berücksichtigen:

      »Man versteht die – zum Teil sehr heftig ausgetragenen – bioethischen Kontroversen über Reproduktionsmedizin, Gentechnologie, Embryonenforschung etc. vermutlich erst dann richtig, wenn man erkennt, dass sie zugleich immer auch Kontroversen um Gesellschaftsentwürfe und Menschenbilder sind und letztlich um die zentrale Frage kreisen, welche Aspekte des Menschseins uns wirklich wichtig sind.«44

      Gesellschaftliche und anthropozentrische Apriori sowie Grenzen werden besonders gut sichtbar, wenn Medienkulturwissenschaft und Diskursanalyse verbunden werden.

      3. Manege frei: Zur gegenwärtigen Konstitution familientechnologischer Gesundheitsmelancholie

      Das folgende Kapitel nimmt seinen Ausgang in der Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind1 (Deutschland 2013, Autor/Regie: Dr. Patrick Hünerfeld, Südwestrundfunk; DVD), um beispielorientiert