Du einen bis daher in dir gebundnen Geist,
Der jetzo tätig wird mit eigner Denkverbindung,
Dir aufschließt unbekannt gewes’ne Weltempfindung,
Empfindung, wie ein Volk sich in der Welt empfunden;
Nun diese Menschheitsform hast du in dir gefunden.
Ein alter Dichter, der nur dreier Sprachen Gaben
Besessen, rühmte sich, der Seelen drei zu haben.
Und wirklich hätt’ in sich nur alle Menschengeister
Der Geist vereint, der recht wär’ aller Sprachen Meister.18
Rückerts Auffassung von Sprache als Einheit in der Vielheit, die er der Naturphilosophie Johann Jakob Wagners (Organon der menschlichen Erkenntnis, Erlangen, 1830)19 entnahm, wird in seiner 1811 vorgelegten Dissertation De idea philologiae (Über den Begriff der Philologie) postuliert. Wie im Abschnitt 4 seiner Dissertation zu lesen ist, widerspiegelt sich die natürliche Dichotomie zwischen Wesen und Form in der Sprache:
Lingua mundi humani interni ideoque mundi externi imago, ut una quidem et tota, in ipsa mente consistit, sed forma duplici ex mente prodit, sono et litera. Sonus et litera pariter in se effingunt mundi ideam, sonus fluens in tempore, litera consistens in spatio, sonus per aurem ad mentem loquens, aurem ad mentem loquens, litera per oculos.20
Die wesentliche Universalität der Sprache zeigt sich nach Rückert dadurch, dass Sprache Organ der menschlichen Erkenntnis sowie Ausdruck des menschlichen Geistes ist. Rückerts Vorstellung der Philologie stimmt nicht mit derjenigen seiner Zeitgenossen überein, die durch etymologische Untersuchungen die Ursprache oder gemeinsame Sprache zu entdecken suchten. Sein Interesse gilt der lebendigen Sprache und nicht deren Beschreibung, wie „die Sprache“, die Hauptfigur des Gedichts Die Sprache und ihr Lehrer, ihrem „Lehrer und Meister“ erklärt:
Die Sprache ging durch Busch und Gehege,
Sie bahnte sich ihre eigenen Wege.
Und wenn sie einmal verirrt im Wald,
Doch fand sie zurecht sich wieder bald.
Sie ging einmal den gebahnten Steg,
Da trat ein Mann ihr in den Weg.
Die Sprache sprach: Wer bist du dreister?
Er sprach: Dein Lehrer und dein Meister.
Die Sprache dacht’ in ihrem Sinn:
Bin ich nicht selber die Meisterin?
Aber sie ließ es sich gefallen,
Ein Streckchen mit ihrem Meister zu wallen.
Der Meister sprach in einem fort,
Er ließ die Sprache nicht kommen zum Wort.
Er hatt’ an ihr gar manches zu tadeln,
Sie sollte doch ihren Ausdruck adeln.
Die Sprache lächelte lang’ in Huld,
Endlich kam ihr die Ungeduld.
Da fing sie an, daß es ihn erschreckte,
Zu sprechen in einem Volksdialekte.
Und endlich sprach sie gar in Zungen,
Wie sie vor tausend Jahren gesungen.
Sie konnt’ es ihm am Maul ansehn,
Daß er nicht mocht’ ein Wort verstehn.
Sie sprach: Wie du mich siehst vor dir,
Gehört’ das alles doch auch zu mir;
Das solltest du doch erst lernen fein,
Eh’ du wolltest mein Lehrer sein.
Drauf gingen sie noch ein Weilchen fort,
Und der Meister führte wieder das Wort.
Da kamen sie, wo sich die Wege theilten,
Nach jeder Seit’ auseinander eilten.
Die Sprache sprach: Was räthst nun du?
Der Meister sprach: Nur gerade zu!
Nicht rechts, und links nicht ausgeschritten;
Immer so fort in der rechten Mitten!
Die Sprache wollt’ einen Haken schlagen,
Der Meister packte sie beim Kragen:
Du rennst mein ganz System über’n Haufen.
Wenn du so willst in die Irre laufen.
Die Sprache sprach: Mein guter Mann,
Was geht denn dein System mich an?
Du deutest den Weg mir mit der Hand,
Ich richte mich nach der Sonne Stand;
Und wenn die Stern’ am Himmel stehn,
So lassen auch die mich nicht irre gehn.
Macht ihr nur keinen Dunst mir vor,
Daß ich sehn kann den ewigen Chor.
Doch daß ich jetzo mich links will schlagen,
Davon kann ich den Grund dir sagen:
Ich war heut’ früh rechts ausgewichen,
Und so wird’s wieder ausgeg lichen.21
Im Gedicht wird Sprache als ein alle „Volksdialekte“ (I, 20) aller Zeiten umfassendes, lebendiges Wesen repräsentiert, die sich in den unterschiedlichen Formen manifestiert, welche die Sprachen der Welt im Laufe der menschlichen Geschichte übernahmen. In ihrer naturgemäßen Entwicklung orientiert sich die lebendige Sprache an dem „Stand der Sonne und der Sterne“, nicht an grammatischen Vorschriften (vgl. Die Sprache und ihr Lehrer, II, 16-17). Rückert betrachtet Poesie als die älteste Ausdrucksform aller Völker. In den lyrischen Formen werden alte Verwandtschaften zwischen den Sprachen sichtbar, die sich im Laufe der Geschichte auseinanderentwickelt haben.22 Formale Beziehungen werden durch Reim und Metrik auch zwischen Wörtern erstellt, die aus verschiedenen Wortfeldern stammen.23 Philologische Arbeit stellt für Rückert die Basis für die Übersetzungsarbeit dar, wobei Ziel der Übersetzungsarbeit ist, die Universalsprache der Poesie zu konstruieren, die das kulturelle Gesamtvermögen der Menschheit zu vermitteln vermag.24 Nur die Universalsprache kann – im erwähnten Gedicht – „den ewigen Chor“ (die poetische Produktion aller Völker und Zeiten) „sehen“ (Die Sprache und ihr Lehrer, II, 20), d.h. sichtbar und wahrnehmbar machen.
Rückert war also kein Philologe im engeren Sinn, obwohl er Orientalist von Beruf war, Professor für Orientalische Sprachen an der Universität Erlangen (1826-1841) und später (1841-1848) in Berlin. Er lehnte die „trockene Philologie“ ab, die in seiner Zeit nach dem Vorbild Wilhelm von Humboldts die Merkmale der einzelnen Sprachen auf der Grundlage empirischer sprachlicher Daten rekonstruiert.25 Seine Reflexionen über die formalen und semantischen Verwandtschaften von Wörtern sind mehr assoziativ als systematisch .26 Er strebt nicht nach theoretischen Erkenntnissen und zeigt kaum Interesse an den philologischen Debatten seiner Zeit, u.a. um die Urheberschaft des Nibelungenlieds oder der Ilias.27 Rückert betont immer wieder, dass er „eigentlich nur darum ein Orientalist geworden sei, weil ein Poet keine Familie ernähren kann“28. In Rückerts Zeit gehört die Orientalistik in Deutschland zur festen Grundausstattung der Philosophischen Fakultäten. Die Aufteilung in die Subdisziplinen für semitische und indogermanische Sprachen war noch nicht etabliert.29 Rückert, der insgesamt 44 Sprachen und 25 Schriftsysteme kannte, musste mehrere Sprachen unterrichten, vor allem diejenigen, die zur Ausbildung der Theologen dienten: Hebräisch, Syrisch und Chaldäisch. Seine Vorliebe galt aber den Sprachen, die ein umfangreiches und interessantes poetisches Korpus vorzeigen konnten. Sein größter Beitrag auf dem Gebiet der sprachwissenschaftlichen Studien hat Rückert durch seine Übersetzungstätigkeit und die Verbreitung der persischen, arabischen und altindischen Literatur geleistet.30 Im Vorwort zur ersten Ausgabe