Schon in Berlin hat Heine die Modernisierung als eine Voraussetzung zur Emanzipation verstanden, als einen notwendigen Schritt, um seine Ausgrenzung als Jude zu überwinden. Er wurde 1822 Mitglied des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, und diesen Eintritt kann man als Reaktion auf seine Enttäuschungen von den Burschenschaften und Studentengesellschaften, die sich als antisemitisch erwiesen, verstehen. Die Reise nach Polen hat seine Entscheidung bestätigt, im Verein aktiv zu werden, um eine kulturpolitische Antwort auf das Elend der östlichen Ghettos zu formulieren.18 Der Verein kämpfte für die Modernisierung des Judentums, weshalb seine Mitglieder „Reformjuden“ genannt wurden.
Eine entscheidende Persönlichkeit innerhalb des Vereins war David Friedländer, ein Schüler Moses Mendelssohns. Er trat für eine Zusammenarbeit zwischen den monotheistischen Religionen ein und behauptete, dass die Juden die Taufe als eine „bloße Form“ verstehen sollten, um die bürokratischen und juristischen Hindernisse der Universitäts- und Staatskarriere überwinden zu können.19 Kein Zufall, dass diejenigen Juden, die eine entscheidende Rolle in den Berliner literarischen Salons spielten, getauft waren, und diese Taufe als wesentlichen Schritt verstanden, um sich von den vorgeschriebenen Vorschriften der Tradition emanzipieren zu können und um in die moderne Gesellschaft eintreten zu dürfen.20 Eduard Gans, Dozent für Jurisprudenz und Schüler Hegels, übernahm bald eine führende Rolle im Kulturverein, und war zugleich Heines Mentor für seinen Eintritt im Verein. Letzterer hatte ein Reform-Programm und stellte den Versuch dar, die berufliche und rechtliche Gleichsetzung der Juden in der modernen deutschen Gesellschaft zu verwirklichen. Und Heine hatte vor, eben in diesem Bereich tätig zu werden.21 In einem Brief vom 23.8.1823 an Moses Moser bestätigt Heine seine Bereitschaft, sich für den Verein zu engagieren:
Daß ich für die Rechte der Juden und ihre bürgerliche Gleichstellung enthousiastisch sein werde gestehe ich, und in schlimmen Zeiten, die unausbleiblich sind, wird der germanische Pöbel meine Stimme hören, daß es in deutschen Bierstuben und Palästen wiederschallt. Doch der geborene Feind aller positiven Religionen wird nie für diejenige Religion sich zum Champion aufwerfen, die zuletzt jene Menschenmäkeley22 aufgebracht, die uns jetzt so viel Schmerzen verursacht.23
Indem aber Heine das Modernisierungsprogramm des Vereins unterstützte, verstand er es nur als Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft, als Möglichkeit, eine Universitätskarriere aufbauen zu können. Diese Hoffnung erwies sich aber bald als Illusion. Er sah von vornherein die Fragwürdigkeit und den Widerspruch dieser Auffassung der Modernisierung und nutzte seine scharfe Ironie, um Theorie und Praxis der Vereinsmitglieder darzustellen. Besonders Gans’ Optimismus und dessen Versuch, eine neue Kolonie im Ausland zu gründen, wird Ziel seiner ironischen Bemerkung:
Wenn einst Ganstown erbaut sein wird, und ein glücklicheres Geschlecht an Mississippi Lulef24 benscht und Matzes kaut, und eine neu-jüdische Literatur emporblüht, dann werden unsere jetzigen merkantilischen Börsenausdrücke zur poetischer Sprache gehören, und ein poetischer Urenkel des kleinen Markus wird in Talles und Tefillim25 von der ganzen Ganstowner Kille26 singen: Sie saßen an den Wassern der Spree und zählten Tresorscheine, da kamen ihre Feinde und sprachen gebt uns Londoner Wechsel – hoch ist der Cours.27
Hier verwendet Heine jiddische und jüdische Worte, er zitiert in umgebildeter Form den Psalm 137,28 stellt aber den optimistischen und idealistischen Anspruch des Vereins der materialistischen und zielgerichteten Aufmerksamkeit auf das Geld und auf die Karriere seiner Mitglieder entgegen.
Im oben zitierten Brief an Moses Moser vom 23. Mai 1823 schreibt er: „Hast Du nicht […] gemerkt, daß ich ein jüdischer Dichter bin?“29 Aber in einem späteren Brief vom 21. Januar 1824 behauptet er: „Eigentlich bin ich auch kein Deutscher, wie Du wohl weißt.“30 Diese Behauptungen werden zugleich in ihr Gegenteil umgekippt und sie werden so ironisch geäußert, dass ihr Wahrheitsgehalt in Frage gestellt wird. Eben in dem Moment, in dem Heine sich als „jüdischen Dichter“ bezeichnet, und seine Bereitschaft bestätigt, für den Verein zu arbeiten, schildert er mit Sarkasmus die Unzulänglichkeit der Strategie von Gans und ironisiert dessen Projekt, eine jüdische Kolonie in Amerika zu gründen. Nun wird dieser Sarkasmus mit einer erneuten Umkehrung der Positionen eben durch Bilder und Sprache geäußert, die aus der jüdischen Tradition stammen. So wie die Behauptung, er sei kein deutscher Dichter, eine polemische Nebenbedeutung beinhaltet, weil sie in dem Kontext einer ironischen Einschätzung des „indischen“ Stücks von Michael Beer geäußert wird.31 Modernität und Judentum sind bei Heine zwei untrennbare Seiten seines Daseins. Seine Analyse der geschichtlichen und politischen Lage und seine Skepsis gegenüber der Glücksversprechung der Reformjuden sind – im Grunde genommen – die Säkularisierung seiner tiefen Beschäftigung mit der Schrift; und sie wird in der letzten Phase seines Lebens zu einer theologischen Neuformulierung seiner Poetik.
Der Sarkasmus, mit dem Heine Gans’ Taufe, als Versuch eine Professur zu bekommen, schildert, widerspricht ganz und gar der Tatsache, dass er selber sich taufen ließ. Die scharfe Polemik gegen die „Wasserjuden“,32 die man in seinem Briefwechsel mit Moser herauslesen kann, ist ein Zeichen seiner Spannung zwischen Identität und Assimilation, bzw. Eintritt in die moderne Gesellschaft.33 Das Wasserbild wird von Heine stets als Symbol des Katholizismus und der religiösen Integration verwendet, was übrigens dem Programm des Vereins entspricht. Der erste Zyklus von Nordsee endet zum Beispiel mit dem Gedicht Frieden, wo das Wasserbild mit der Christusfigur verschmolzen wird und es auf die Assimilation verweist. Das Modernisierungsprogramm des Vereins scheitert, als es sich als illusorisch erweist und Heine feststellt, dass er jene gehoffte Eintrittskarte in die moderne Gesellschaft nicht einmal durch die Taufe bekommt. So fühlt er sich mehr denn je isoliert: „Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab, ich habe seitdem nichts als Unglück“34 – wie er in einem Brief an Moser vom 9. Januar 1826 schreibt. Trotz aller Identitätsprobleme35 darf man den politischen Aspekt seiner formellen Bekehrung nicht unterschätzen. In den Geständnissen nennt er sich „einen protestierenden Protestant“,36 indem er die instrumentelle Seite seiner Bekehrung betont: „Berlin vaut bien un prêche“.37
Heine ist nicht in der Lage, aus seinem innerlichen Zwiespalt theoretisch herauszukommen; er bildet den Gegensatz zwischen Identität und Assimilation in eine ironische und selbstironische Schreibweise um, die den Zwang dichterisch produktiv macht. Die deutsch-jüdische Spannung – man könnte aber zugleich die Gegenüberstellung zwischen Romantik und moderner Gesellschaft sagen – wird durch die ironische Zerstörung der einzelnen Gegenpole dichterisch überwunden. Und die Lösung erweist sich als die ,plastische‘ Darstellung dieser inneren Spaltung, die zur Allegorie der Übergangszeit wird. Als Heine eine Bilanz seines Lebens zieht, schreibt er: „Es ist nichts aus mir geworden, nichts als ein Dichter.“38 Keineswegs handelt es sich hier um eine „Bescheidenheit“, weil er sich mit Goethe gleichsetzt; und wenn wir den Bildern und der Sprache die entsprechende kommunikative