Bei dem späten Heine also taucht der Orientalismus im Sinne einer tiefen Identifizierung mit der jüdischen Religion wieder auf. Kulturpolitisch aber wird diese jüdische Wurzel mit einer anderen östlichen heidnischen Komponente verschmolzen. Heines Orientalismus besteht immer wieder in der Kombination von zwei Kulturen und zwei ästhetischen Strategien, die nur in dem Zwischenraum des dichterischen Produktion ihren eigentlichen Ort finden.
Deutsche Wörter aus dem Orient in der „indischen Geschichte“ Ral und Damajanti von Friedrich Rückert (dvandva, bahuvrīhī, karmadhāraya)
Marina Foschi Albert
Edward Saids bekannte Kategorie „Orientalismus“1 ist nicht unumstritten. Sie wird beispielsweise von Polaschegg2 für unbrauchbar gehalten, wenn es darum geht, den zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland herrschenden Orient-Diskurs zu beschreiben. Nach Polaschegg kann die Situation des Zeitalters vor der Kolonialpolitik vielmehr durch die Kategorie „anderer Orientalismus“ beschrieben werden. Der andere Orientalismus erkenne den Orient als vertraute Kultur, um sich ihn anzueignen. Die dazu führenden Wege heißen Literatur, protestantische Theologie und historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. Auch Messling und Ette3 widersprechen Saids These, der europäischen Philologie sei eine wesentliche Verantwortung für die Entwicklung eines rassistischen Orientbilds zuzuschreiben. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass es schon im 19. Jahrhundert philologische Ansätze gab, die eine Vorstellung der Alterität anbahnen. Eine positive Einschätzung hinsichtlich der Toleranz von deutschen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint Said selbst zu teilen, als er im Vorwort zur 2003 Neuausgabe seines Werks4 die Vision der Weltliteratur hervorhebt, die u.a. bei Wolf, Goethe, Humboldt, Herder heranwächst. Die Frage, der hier nachgegangen wird, ist, ob auch Friedrich Rückert, orientinspirierter Dichter und Orientalist von Beruf, einen gebührenden Platz in diesem „alternativen Orientbild“ verdienen kann.
Rückerts sprachbedingter Blick auf den Orient scheint alles andere als ein konventioneller und pointierter zu sein. Er betrachtet die Sprachen der orientalischen Dichtung, vor allem die arabische, persische und indische, vielmehr als besonders leistungsfähige Ausdrucksmittel der Poesie, wobei er die poetische Sprache als das privilegierte Mittel ansieht, durch welches der menschliche Geist zum gegenseitigen Verständnis unter allen Völkern beitragen kann. Seine aufgeklärte Perspektive auf die orientalische Dichtung kostete Rückert vermutlich seinen dichterischen Ruf. Heute ist er als Lyriker so gut wie vergessen. Die Aktualität seiner Denkweise wurde allerdings in mehreren Gedenkartikeln anerkannt, die 2016 zu seinem 150. Todestag erschienen sind.5 Seine Aktualität bestehe u.a. darin, wie halb humorvoll geschrieben wurde,6 dass er schon damals wusste, „wie die Integration von Flüchtlingen gelingen kann.“
Diese Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile, in denen es jeweils um Rückerts Rezeption und um seine Auffassung von Sprache und Philologie mit besonderem Augenmerk auf seine Tätigkeit als Übersetzer aus den orientalischen Sprachen geht (1). Es soll danach an einem konkreten Beispiel – der Wortbildung des Sanskrits – Rückerts Programm gezeigt werden, durch Aneignung fremdsprachiger Ausdrucksmöglichkeiten aus dem Orient, die deutsche Sprache zu bereichern und „Universalpoesie“ zu verwirklichen: So wird in (2) die Wortbildung des Sanskrits in großen Zügen präsentiert, um eine Hypothese über die Übertragung fremder Mechanismen von altindischen Wortbildungsformen in Rückerts Nachdichtung Ral und Damajanti (1838) zu erstellen (3). Es werden schließlich die Ergebnisse der Wortbildungsanalyse derselben präsentiert, wobei es um das Verhältnis von „fremden“ dvandva- und bahuvrìhì-Bildungen und „typisch deutschen“ karmadhāraya- Komposita geht (4).7
Rückert als Dichter und Orientalist: die Aufgabe der Philologie
Rückert war ein Virtuose der lyrischen Form und verfasste in Versen auch Texte anekdotischer und moralischer Natur. Sein dichterisches Werk steht zum großen Teil unter dem Einfluss des Orients, darunter die Gedichtsammlungen Ghaselen nach Dschelaleddin Rumi (1819) und Östliche Rosen (1821) (inspiriert von Goethes West-Östlichem Divan) sowie seine Morgenländische Sagen und Geschichten (1837). Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war er ein sehr populärer Dichter: Sein sechsbändiges Lehrgedicht Weisheit des Brahmanen (1836/39) und die Gedichtsammlung Liebesfrühling (1844) gehören zu den meistgelesenen Büchern seiner Zeit. Rückert hat kein in sich geschlossenes, größeres Werk verfasst8. Er publizierte vor allem in kleinformatigen Taschenbüchern und versuchte dabei, aus finanziellen Gründen so viele Gedichte wie möglich zu platzieren. Die Fülle und Verschiedenartigkeit seiner Produktion fiel schon in seiner Zeit negativ auf. So schrieb etwa der Kritiker Wilhelm Müller (1824):
Es scheint wahrlich, als triebe Rückert die Poesie […] als eine Fabrik: Heut wollen wir hundert Sonette anfangen, die werden übermorgen fertig; dann kommen ein paar Schock Epigramme daran, dann liefern wir orientalische Arbeit, einige Dutzend Ghaselen, und daß wir nicht aus der Übung kommen, lassen wir zu guter letzt italienische Ware folgen.9
Rückert ist heute insgesamt besser bekannt im Kreis der Orientalisten als im Germanistenbereich,10 wo seine dichterische Produktion als „Epigonenlyrik“ eingestuft11 und als „Gartenlauben-Dichtung“ abgewertet wird12. Sein Name zirkuliert vor allem dank der zahlreichen Vertonungen seiner Lieder, darunter diejenigen von Fanny Mendelssohn-Hensel.13 In einer Zeit, wo Romane und Reisebeschreibungen sehr beliebt waren, zeigte Rückert keine Duldung für Unterhaltungsliteratur. Als „Polenlieder“ zur Mode wurden,14 weigerte er sich, sich mit dem Genre zu beschäftigen, obwohl er seinen früheren poetischen Ruf der patriotischen Geharnischten Sonette verdankte15. Stattdessen konzentrierte er seine Produktion auf Übersetzungen und Nachdichtungen aus den orientalischen Sprachen. Damit stieß er auf Unverständnis. In den Blättern für literarische Unterhaltung hieß es 1843, Rückert sei „fast außer Zusammenhang mit der übrigen deutschen Dichterwelt“. Sein Versuch, bestimmte Strukturen der orientalischen Sprachen zu verdeutschen, verursachte scharfe Kritik an seinem Stil, z.B. gegen „Geschmacklosigkeiten“, „ungeschickte Wortstellung“, „triviale Sprache“, wovon 1840 in den Hallischen Jahrbüchern für Deutsche Wissenschaft und Kunst die Rede war.16
Rückert betrachtete Sprachen als Ausdrucksmittel des menschlichen Geistes. Sprachkenntnis und die Kenntnis der Poesie fremder Völker und Zeiten konnten seiner Ansicht nach zur allgemeinen Weltversöhnung beitragen.17 Seine Vorstellung über Sprache zeigt sich im folgenden Gedicht (Nr. 297) aus der Sammlung Die Weisheit des Brahmanen (1836-1839): Sprachen vereinigen in sich ein universales Element und ein eigenartiges Element: den menschlichen Geist (I, 2) und die „Seele“ des