Dass eine solche, mit Versatzstücken aus der »verwandten Kunst« bestückte Geschichtsschreibung die Historie jedoch nicht einfach rekonstruiert, sondern unter Umständen neu konstituiert, ist Schiller durchaus bewusst – wie er in einem Brief an Körner im Februar 1788 selbstbewusst zugibt:
Eigentlich, lieber, finde ich doch mit jedem Tage, daß ich für das Geschäft, welches ich jetz treibe, so ziemlich tauge. Vielleicht gibt es beßere, aber nenne mir sie. Die Geschichte wird unter meiner Feder, hier und dort, manches, was sie nicht war. Das sollst Du am Ende selbst erkennen, wenn Du erst mein Buch gelesen haben wirst.12
Die Schiller’sche Erkenntnis, dass der historiografische Prozess (und darin dem literarischen gleich) immer auch ein sinnstiftender ist, reflektiert zum einen den bereits skizzierten polyvalenten Geschichtsbegriff, der sowohl den Kollektivsingular »Geschichte« als Verdichtung einzelner historischer Ereignisse, die res gestae, wie auch deren nachträgliche Repräsentation, die historia rerum gestarum, meint. Zum anderen antizipiert die bei Schiller formulierte Einsicht, dass dem Weg von den historischen Fakten zur narrativen Repräsentation dieser Fakten ein genuine Unzuverlässigkeit eingeschrieben ist, bereits Resultate des linguistic turns, der den Wirklichkeitsbegriff als erst sprachlich repräsentiertes und damit performativ erzeugtes Phänomen begreift.
Schiller selbst problematisiert diese der Geschichte genuin eingeschriebene Unzuverlässigkeit noch nicht, sondern löst sie in seiner Gegenüberstellung von ›historischer‹ und ›poetischer‹ Wahrheit auf. Programmatisch entfaltet er diesen Gegensatz in einem Brief an Caroline von Beulwitz im Dezember 1788:
Was Sie von der Geschichte sagen ist gewiß ganz richtig, und der Vorzug der Wahrheit, den die Geschichte vor dem Roman voraushat, könnte sie schon allein über ihn erheben. Es fragt sich nur ob die innre Wahrheit, die ich die philosophische und Kunstwahrheit nennen will, und welche in ihrer ganzen Fülle im Roman oder in einer andern poëtischen Darstellung beherrschen muß, nicht eben soviel Werth hat als die historische. […] Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen laßen, was sie unter meinen Händen werden.13
Hier deutet sich jener Geschichtsbegriff an, den Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? etablieren wird und der die Geschichte nicht mehr als reine Ansammlung von Fakten, sondern als »ganze moralische Welt« verstehen will.14 In seiner Vorlesung entfaltet Schiller ein universalhistorisches Systemdenken, das Geschichte als kohärenten, teleologisch ausgerichteten Prozess aufzufassen sucht, der das Gegenwärtige nur aus der Vergangenheit fassbar macht: »[D]ie ganze Weltgeschichte würde wenigstens nöthig seyn, dieses einzige Moment zu erklären.«15 Tatsächlich sind es jedoch nicht dieser in der Antrittsvorlesung emphatisch vorgetragene Geschichtsoptimismus und das teleologische Geschichtsmodell, die Schillers Ruf als modernen Geschichtsschreiber begründet haben. Vielmehr ist Daniel Fulda zuzustimmen, wenn er mit Blick auf die Schiller-Rezeption schlussfolgert: »Modernität wird Schillers Ansicht vom Geschichtsprozeß nur dort zugemessen, wo er sie einer (Selbst-)Kritik unterzieht.«16
Für die Frage nach den historischen Zusammenhängen von Geschichtsschreibung und Dichtung können die geschichtsphilosophischen Überlegungen Schillers außer Acht gelassen werden. Vielmehr sollen abschließend seine Ausführungen zu narrativen Strukturen der Historiografie berücksichtigt werden, die einmal mehr in der Antrittsvorlesung auffallen, wenn Schiller hier Prozesse der schriftlichen und mündlichen Überlieferung als Quellen historischer Erkenntnis ausführlich problematisiert:
I. […] Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren. II. Nachdem aber auch die Sprache erfunden und durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene Dinge auszudrücken und weiter mitzutheilen, so geschah diese Mitteilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren Weg der Sagen. […] Die lebendige Tradition oder die mündliche Sage ist daher eine sehr unzuverläßige Quelle für die Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die Weltgeschichte so gut als verloren. III. Die Schrift ist aber selbst nicht unvergänglich […]. Bey weitem der größre Theil ist mit den Aufschlüssen, die er uns geben sollte, für die Weltgeschichte verloren. IV: Unter den wenigen [Quellen, S.C.] endlich, welche die Zeit verschonte, ist die größere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den Unverstand und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber verunstaltet und kennbar gemacht. […] – Die kleine Summe von Begebenheiten, die nach allen bisher geschehen Abzügen zurückbleibt, ist der Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstande.17
Indem Schiller hier nicht nur die Abhängigkeit der Geschichte von der Sprache, sondern darüber hinaus die Unzuverlässigkeit mündlicher Überlieferung sowie den häufig fragmentarischen Charakter schriftlicher Quellen und zuletzt die Figur des Geschichtsschreibers als subjektiven Interpreten der Geschichte problematisiert, stößt er mitten in den modernen geschichtswissenschaftlichen Diskurs vor, dessen Selbstverständnis mit der Einsicht in die ›sprachliche Verfasstheit‹ der Geschichte radikal erschüttert wird. Insofern lässt sich Schiller durchaus als Vorbote eines im Zeichen von Poststrukturalismus wie Postmoderne problematisierten Geschichtsbegriffes verstehen und von hier aus ist die auffällige Wiederentdeckung seiner historischen Schriften gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts erklärbar.18
Schiller selbst nimmt die daraus resultierende Literarisierung der Historie mit Blick auf die moralischen wie ästhetischen Wirkungsabsichten seiner historischen Schriften gerne in Kauf. Es ist, mit Johannes Süssmann, gerade sein kulturpolitisches Engagement, das »die Historie aus dem akademischen Ghetto vor die Augen der Nation« führt.19 Dass Schiller trotz seines Wissens um die narrative Modellierung historischen Wissens an dem historischen Erkenntnisgewinn einer auch poetisch angereicherten Geschichtsschreibung festhält, macht ihn zum Vordenker einer neuen Epoche der Geschichtswissenschaft und insofern stellt »das Bekenntnis zur Konstruktivität jeder Historiographie nach Maßgabe des jeweiligen Perspektivpunkts […] eine epochale geschichtstheoretische Leistung speziell Schillers dar.«20
2.3 Der Historismus des 19. Jahrhunderts
Das aufklärerische 18. Jahrhundert vergegenwärtigt, so konnte gezeigt werden, jene Epoche, die den Beginn der Geschichtswissenschaft als autonome akademische Disziplin markiert und von einem entsprechenden Bemühen um ihre Professionalisierung geprägt ist. Zu diesem gehört die Differenzierung zwischen einer sich erst entwickelnden wissenschaftlichen Historiografie und der zeitgenössischen Poesie, mithin zwischen Historiker und Dichter.
Im 19. Jahrhundert hingegen rücken beide Bereiche im Zuge der Etablierung der Geschichte als eigenes Wissenschaftsfach und einer damit verbundenen Ausweitung fachinterner Reflexionen zumindest vorgeblich auseinander. Die historische Forschung gewinnt an Relevanz und löst, so hält etwa Hans Schleier in seinem Epochenüberblick fest, die didaktisch-rhetorischen Funktionen ab, die man im 18. Jahrhundert etwa mit der Dichtkunst Gottscheds verbunden hatte. Nun avancieren eine sorgfältige Editionsarbeit, die Verwertung neuer Quellen sowie die Archivarbeit zum neuen Maßstab historischen Erkenntnisgewinns.1 Als Historismus im engeren Sinn bezeichnet Schleier dieses neue geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis, das nun mit Vertretern wie Wilhelm von Humboldt, Leopold von Ranke oder Georg Waitz die Geschichtsauffassungen und die Historiografie durchdringe und »die Suche nach genauem Detailwissen und neuen Quellen« fördere.2 Diesen enger gefassten Historismus-Begriff scheint auch Hans-Jürgen Goertz zu meinen, wenn er in Aufklärung und Historismus jene Epochen erkennt, die – gerade in ihren Differenzen – auf noch anhaltende Diskussionen um die Darstellbarkeit einer ›historischen Realität‹ und dabei auf einen Umgang mit der Wirklichkeit verweisen, »der heute noch eine Rolle spielt«. 3
Die Gleichsetzung neuer geschichtstheoretischer Überlegungen wie geschichtswissenschaftlicher Praktiken des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff des Historismus ist hingegen nicht unumstritten: Noch immer herrscht in Bezug auf ihn kein Konsens,