2.2 Friedrich Schiller: Vordenker der modernen Geschichtswissenschaft
Niemand repräsentiert die Schnittstelle zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung im auslaufenden 18. Jahrhundert derart nachdrücklich wie Friedrich Schiller, der in den Jahren zwischen 1787 und 1793 als Verfasser historischer Schriften, allen voran der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung und der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs, außerordentliche Erfolge feiern kann. Dessen ungeachtet sorgt diese ›historiografische Zeit‹ innerhalb der literatur- wie geschichtswissenschaftlichen Forschung als »graue Zone im Leben Schillers«1 lange Zeit für Unbehagen, so dass sich noch 1995 in einem Aufsatzband zu »Schiller als Historiker« einleitend folgendes Urteil findet:
Keine der hier zuständigen Wissenschaften fühlte sich bisher dafür verantwortlich. Die Literaturwissenschaften haben sich für die Geschichtsprosa Schillers bisher nie recht zuständig gefühlt; denn sie waren und sind auf die fiktive Literatur, die Dichtung und damit auch auf den Dichter Schiller fixiert. Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist Schiller noch nie recht beachtet worden.2
Kritik erfährt Schillers historiografische Tätigkeit insbesondere im 19. Jahrhundert, allen voran durch Vertreter des Historismus, die Schillers historische Texte ausgehend von den eigenen Ansprüchen an eine möglichst gewissenhafte Quellensichtung und akribische Archivarbeit gerne verwerfen – ablesbar an Leopold von Rankes vielzitiertem Urteil: »Schiller hatte keinen Beruf zum Geschichtsschreiber«.3
Diese Vorwürfe jedoch greifen zu kurz und ignorieren, dass, wie Peter-André Alt in seinem Kommentar zu den historischen Schriften Schillers zu Recht betont, die »am methodischen Ideal der exakten Quellenprüfung ausgerichteten Arbeiten eines Niebuhr, Mommsen oder Droysen […] Maßstäbe [setzten, S.C.], mit denen Schillers Studien nicht zu erfassen waren.«4 Wie die Geschichtswissenschaft grundsätzlich, so ist die Geschichtsschreibung in ihrem Selbstverständnis im 18. Jahrhundert weit von inzwischen standardisierten methodischen Prämissen entfernt. Daniel Fulda folgt Alts Urteil und unterstreicht, dass die im 19. Jahrhundert laut werdende Kritik an der vermeintlich schlecht recherchierten sowie quellenkritisch kaum reflektierten Form der Geschichtsdarstellung keineswegs Schiller im Besonderen zur Last gelegt werden könne. Vielmehr entspreche sie den wissenschaftlichen oder besser: noch nicht wissenschaftlichen Gepflogenheiten der damaligen Zeit.5
In jüngster Zeit hat sich die Forschungslage sowohl aus geschichts- wie literaturwissenschaftlicher Perspektive verändert und ist die lange Zeit marginalisierte historische wie historiografische Tätigkeit Schillers als »entscheidender Schritt in die historiographische Moderne« neu gewertet worden.6
Die ›Renaissance‹ des Historikers Schiller zu Beginn des dritten Jahrtausends verdankt sich nicht zuletzt der Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft selbst. Diese muss sich in der Folge des linguistic turn der kritischen Einsicht stellen, dass eine der Sprache vorgängige Geschichte nur schwer zu haben ist, und unterzieht davon ausgehend die für die Konstitution historischen Wissens verantwortlichen narrativen Strukturen neuen Analysen. Geschichte und Literatur geraten durch die sie ausmachende narrative Repräsentation in ein verwandtschaftliches Verhältnis, das leicht an jene Einsichten Schillers rückzukoppeln ist, die sein Denken im Grenzraum von Literatur und Geschichte prägen. Programmatisch versteht sich in diesem Zusammenhang das berufliche Selbstverständnis, das Schiller etwa im Briefwechsel mit dem Freund Gottfried Körner entwirft. So verteidigt er sich am 7. Januar 1788, zur Zeit der Fertigstellung seines Manuskripts zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande in einem Brief an Körner gegen dessen Kritik an der vermeintlich ›prosaischen‹ historiografischen Tätigkeit Schillers und legt seinen eigenen Begriff einer ›schöpferischen‹ Geschichtsschreibung dar:
Deine Geringschätzung der Geschichte kommt mir unbillig vor. Allerdings ist sie willkührlich, voll Lücken und sehr oft unfruchtbar, aber eben das willkührliche in ihr könnte einen philosophischen Geist reitzen, sie zu beherrschen; das leere und unfruchtbare einen schöpferischen Kopf herausfordern, sie zu befruchten und auf dieses Gerippe Nerven und Muskeln zu tragen.7
Indem Schiller die Geschichte hier anthropomorphisiert und in das Zeichensystem des menschlichen Körpers übersetzt, macht er ihren prozesshaften, im Verlauf subjektiven Beeinflussungen ausgesetzten Status sichtbar. Geschichte lässt sich mit Schiller nicht als in sich abgeschlossene, linear nachvollziehbare Faktensammlung begreifen, sondern liefert lediglich ein körperloses »Gerippe«, das erst durch den Schöpfungsakt des Historiografen, insbesondere aber den »philosophischen Geist« des Dichters zum funktionstüchtigen Körper avanciere.
Schiller nimmt das Bild der auf ein menschliches Skelett reduzierten Geschichte noch einmal auf, wenn er die Geschichte des dreissigjährigen Kriegs mit einem Ausblick auf die noch zu schreibende Geschichte des Westfälischen Friedens (die er selbst allerdings nicht mehr verfassen wird) wie folgt beschließt:
[U]nd so ein großes Ganze die Kriegsgeschichte war, so ein großes und eignes Ganze ist auch die Geschichte des Westphälischen Friedens. Ein Abriß davon kann mit der hier nöthigen Kürze nicht gegeben werden, ohne das interessanteste und charaktervolleste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft zum Skelet entstellen, und ihr gerade dasjenige zu rauben, wodurch sie die Aufmerksamkeit desjenigen Publikums fesseln könnte, für das ich schrieb, und von dem ich hier Abschied nehme.8
Hier wird deutlich: Im Gegenteil etwa zu Gottscheds oder Lessings Warnungen vor einer poetischen ›Anreicherung‹ historiografischer Darstellungen erkennt Schiller gerade darin die Pflicht einer Geschichtsschreibung, wenn sie überhaupt Wirkung beim Publikum zu erzielen beabsichtigt. In der narrativen Form, die jedes historisches Geschehen erst vermittelbar macht, sieht Schiller für sich selbst die Chance, die Geschichte »aus einer trockenen Wissenschaft in eine reitzende« zu verwandeln und sich mittels einer historischen Einbildungskraft von genaue jenen »seichte[n], trockne[n] und geistlose[n] Bücher[n]« abzuheben, die er selbst zum Quellenstudium heranziehen musste.9
Golo Mann bleibt eine Ausnahme unter den frühen Urteilen zu Schillers historiografischer Arbeit, wenn er dessen Leistung als Historiker gerade darin erkennt, zu wissen
daß Erzählen selbst dessen, was sich wirklich begeben, immer auch Dichtung ist, weil es so, wie es wirklich gewesen, in seiner formlosen Unendlichkeit, sich ja doch nicht ergreifen läßt; daß, wer etwas erzählen will, es schön erzählen muß, und sein eigenes Ich mit einsetzen, und Worte zu Rhythmen fügen und so den Chaosdrachen bannen für eine Zeit.10
Entscheidend ist, dass Schiller die erzählerisch-stilistische Aufwertung einer Geschichtserzählung dabei nicht (wie etwa Lessing) mit der Verminderung ihrer wissenschaftlichen Seriosität gleichsetzt – auf diese nämlich besteht er mit Nachdruck, etwa in seiner Vorrede zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung:
Meine