Beurteilungsgespräche in der Schule. Vera Mundwiler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vera Mundwiler
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000140
Скачать книгу
Telefongespräche und Hausbesuche. Gegenstand dieser Arbeit sind ausschliesslich die ersteren, welche als Elternsprechstundengespräche oder allgemeiner als Elterngespräche benannt werden. Diese lassen sich gemäss Sacher (2014: 61ff.) weiter unterteilen in Willkommens- und Begrüssungsgespräche, anlassungebundene Gespräche (Lern- und Entwicklungsgespräche), Beratungsgespräche sowie Kritik-, Beschwerde- und Konfliktgespräche. Diese Kategorien zeigen eine Vielfalt von Gesprächsanlässen, sollen jedoch nicht dazu verleiten, die vorliegenden Gesprächsdaten vorschnell zuzuordnen. Gerade die Kategorie Beratungsgespräch erscheint als Bezeichnung des Gesprächstyps nicht passend für das Korpus, da sich bei den Gesprächen nicht die für Beratungsgespräche als konstitutiv herausgearbeiteten Abläufe finden (vgl. dazu z.B. Nothdurft, Reitemeier & Schröder 1994). Dennoch lassen sich – neben anderen – auch beratende Sequenzen ausmachen. Ebenso ist die Kategorie Kritik-, Beschwerde- und Konfliktgespräche problematisch, wenn davon ausgegangen wird, dass der Anlass sowie das Gespräch konfliktgeladen sind (vgl. Sacher 2014: 65ff.). Auch wenn dem Gespräch ein Konflikt vorausgeht, muss das Gespräch dadurch nicht konfliktgeladen sein, sondern kann konstruktiv geführt werden und beispielsweise wiederum auch beratende Sequenzen aufweisen. Der Kontext bestimmt also nicht den Gesprächsmodus und diese Kategorien vermögen den Gesprächstyp nur unzulänglich einzuordnen. Eine Kategorie, nämlich die der Willkommensgespräche, kann ausgeklammert werden, da sie sich im Korpus nicht findet. Am zutreffendsten für einen grossen Teil der Gesprächsdaten ist die Kategorie der anlassungebundenen Gespräche. Damit wird betont, dass diese Gespräche nicht aufgrund eines Problems stattfinden, sondern, wie im Falle der untersuchten Gespräche des ersten bis fünften sowie des achten Schuljahres, regelmässig mit allen Eltern einer Klasse geführt werden. In der Praxis wird diese Gesprächsform wie bei Sacher (2014: 62) als Lern- und Entwicklungsgespräche bezeichnet, oder beispielsweise als Standortgespräche, Standortbestimmungsgespräche, Beurteilungsgespräche oder Lernberichtsgespräche. Diese Begriffe variieren von Schule zu Schule.

      Im Allgemeinen findet der Oberbegriff Elterngespräch eine breite Verwendung. Jedoch wird bei dieser Bezeichnung vernachlässigt, dass es in den Gesprächen noch weitere Beteiligte gibt. So müsste präziser von Eltern-Lehrperson-Gesprächen oder dann von Eltern-Lehrperson-SchülerIn-Gesprächen gesprochen werden. Nun sind aber unter Umständen noch andere Personen an diesen Gesprächen beteiligt, so beispielsweise SchulsozialarbeiterInnen, HeilpädagogInnen, Schulleitungen oder DolmetscherInnen. Auch aufseiten der Familienangehörigen ist der Begriff Eltern problematisch, da generell Erziehungsberechtigte oder aber auch andere Bezugspersonen mitgemeint sein können.4 Da also die Beteiligungsstruktur auf unterschiedliche Art variieren kann, scheint es mir wenig sinnvoll, diesen Begriff auf nur eine Beteiligtengruppe oder auf eine prototypische Beteiligungskonstellation zu reduzieren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit spreche ich daher von Beurteilungsgesprächen und verwende damit einen in der schweizerischen Bildungslandschaft vermehrt verankerten Begriff (vgl. z.B. AVS 2005: Kap. 5; Vögeli-Mantovani 2011), der den Fokus nicht auf die Beteiligten, sondern auf die Kernaktivität der Gespräche setzt.

      Im Folgenden wird das Forschungsfeld genauer betrachtet (Kap. 1.1), um dann die eigenen Forschungsinteressen und Fragestellungen (Kap. 1.2) sowie den Aufbau der vorliegenden Arbeit vorzustellen (Kap. 1.3).

      1.1 Schulische Beurteilungsgespräche als Forschungsgegenstand

      Die gesprächsanalytische und ethnografische Erforschung von Schul- und Unterrichtskommunikation hat in der Linguistik, der Soziologie und der Pädagogik eine längere Tradition und wurde ab den 1970er Jahren u.a. durch Arbeiten von Ehlich und Rehbein (1983; 1986), Kalthoff (1995), Mehan (1979), McHoul (1978; 1990) und neuere Beiträge von Becker-Mrotzek und Vogt (2009) sowie Vogt (2002) geprägt. Auch zur Nebenkommunikation innerhalb und ausserhalb des Unterrichts gibt es einige empirische, mehrheitlich ethnografische, Forschungsarbeiten (vgl. z.B. Baurmann, Cherubim & Rehbock 1981; Breidenstein & Kelle 1998; Breidenstein 2006), jedoch bleibt die Kommunikation an der Schnittstelle von Schule und Familie zunächst unerforscht. So stellt Sucharowski (2001) in einem Handbuchartikel zu Gesprächen in der Schule zwar verschiedene Gesprächskontexte inner- und ausserhalb des Unterrichtsgeschehens vor, erwähnt Beurteilungsgespräche aber nur kurz im Rahmen von Beratungsgesprächen. Bis vor Kurzem gab es erst vereinzelte Fallstudien aus dem angelsächsischen Raum sowie aus Schweden, weshalb auch die empirische Zuwendung zur Thematik des schulischen Beurteilungsgesprächs als Forschungsdesideratum erklärt wird (vgl. auch Kotthoff 2012a: 292). In der Zwischenzeit gibt es verschiedene laufende Projekte zu Beurteilungsgesprächen, die einen dezidiert empirischen Zugang verfolgen und so ist zu hoffen, dass in den kommenden Jahren neue Erkenntnisse über den Gesprächstyp erlangt werden können.

      Während die Erforschung des Beurteilungsgesprächs also noch eine relativ junge Disziplin darstellt, ist der Gesprächstyp aber im Bereich der Ratgeberliteratur mit regelmässigen Neuerscheinungen dominant vertreten (vgl. aus den letzten Jahren z.B. Beier 2012; Richter 2011; Roggenkamp, Rother & Schneider 2014). Jedoch verfolgen ratgebende Texte grundlegend andere Interessen als gesprächsanalytische Studien. In Ratgebern wird in der Regel eine problemorientierte Perspektive eingenommen und es werden Lösungen und praktische Tipps vermittelt. Das bedeutet auch, dass gewisse Normvorstellungen darüber existieren, was ‚gute’ oder ‚gelungene’ Gespräche sind (vgl. auch Hauser & Mundwiler 2015a: 10). In der gesprächsanalytischen Forschungsrichtung hingegen wird ein Gesprächsereignis nicht normativ bewertet, sondern das Erkenntnisinteresse liegt auf der Frage nach den tatsächlich vorkommenden Praktiken in authentischen Gesprächssituationen: „Es geht also nicht darum, danach zu fragen, wie gut die Interagierenden ihre kommunikative Aufgabe lösen, sondern wie sie sie lösen“ (Hauser & Mundwiler 2015a: 12, Hervorhebung im Original).

      Im Folgenden werden Ergebnisse aus den neuesten empirischen Forschungsarbeiten vorgestellt. Dabei geht es einerseits um Studienergebnisse aus der pädagogischen Forschungsliteratur (Kap. 1.1.1) und andererseits sollen erste Ergebnisse aus gesprächsanalytischen Studien diskutiert werden (Kap. 1.1.2), um den derzeitigen Forschungsstand abzubilden.

      1.1.1 Ergebnisse aus Interview- und Fragebogenstudien

      Walker (1998) berichtet in einer Interviewstudie aus England über grundsätzlich widersprüchliche Erwartungen an die Gespräche: Eltern möchten sich selbst einbringen können und sind frustriert über die fehlenden Fragen nach ihrer (Experten-)Sicht sowie über das monologische Abarbeiten von Themen vonseiten der Lehrpersonen. Diese hingegen betrachten die Gespräche als „public relations exercise to fulfil schools’ obligations of accountability“ (Walker 1998: 175) und sind demnach an einer möglichst raschen Informationsvermittlung zum aktuellen Stand in der Schule interessiert. Insbesondere bei den kürzer angelegten Gesprächen an Elternsprechtagen werden dann auch die knappen Zeitressourcen bemängelt und gleichzeitig die Sinnhaftigkeit solcher Interaktionen infrage gestellt (vgl. Lemmer 2012: 90f.; Walker 1998: 171).

      In einer weiteren Studie von Walker (2002), die auch kleinere Ausschnitte aus Gesprächsaufnahmen diskutiert, wird die Rolle der SchülerInnen diskutiert. Die Befragungen zeigen sehr unterschiedliche Sichtweisen der Beteiligten zu Sinn und Notwendigkeit der Anwesenheit von SchülerInnen bei diesen Gesprächen, wobei Letztere durchaus teilnehmen wollen. Insgesamt kommt Walker (2002: 477) zum Schluss, dass die SchülerInnen zu wenig einbezogen werden und wenn sie anwesend sind, dann doch nur minimal beteiligt sind.

      In einer grösser angelegten Fragebogenstudie in Deutschland wurden Schulleitungen, Lehrpersonen und Eltern zu Beratungsangeboten befragt und die Autorinnen kommen zum Schluss, dass die Beratungsangebote zwar als gut eingestuft werden, jedoch Eltern mit Migrationshintergrund sowie Eltern aus bildungsfernen Schichten weniger erreicht werden (vgl. Hertel et al. 2013). Die Schwierigkeit eines erfolgreichen Kontaktes zwischen Schulen und Familien mit Migrationshintergrund wird in zwei kanadischen Studien bestätigt (vgl. Bernhard et al. 1998; Peterson & Ladky 2007).

      Interview- und Fragebogenstudien geben wichtige Einblicke in die Kontexte der Gesprächssituation und die Einstellungen der AkteurInnen. Aus gesprächsanalytischer Sicht ist jedoch die spezifische Interaktion als eigene sinnschaffende Aktivität im Zentrum