Rimmon-Kenan35 teilt eine Erzählung in die drei Bereiche Text, Story und Narration ein und schreibt die Figurenanalyse sowohl dem Bereich der Story als auch dem Bereich des Textes zu. Zur Figurenanalyse in der Story äußert sie sich folgendermaßen: „I have said above that in the story character is a construct, put together by the reader from various indications dispersed throughout the text.“36 Rimmon-Kenan vertritt damit in Anlehnung an Chatman die Ansicht, dass einer Figur verschiedene Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften zugeschrieben werden.37 Die von Forster eingeführte Einteilung von Charakteren in flache und runde Charaktere kritisiert Rimmon-Kenan jedoch, indem sie deutlich macht, dass eine Figur nicht nur rund oder flach, sondern wesentlich komplexer dargestellt werden kann.38
Zur Figurenanalyse auf der Ebene des Textes schlägt sie eine Einteilung in zwei grundsätzliche Kategorien vor: Direkte Definition39 und indirekte Präsentation.40 Unter den Bereich der indirekten Präsentation fallen dabei folgende Unterbereiche: Handlung, Rede, äußeres Erscheinungsbild und Umwelt.41
Jannidis42 definiert Figuren als „mentale Modelle […], die in der narrativen Kommunikation aufgebaut und verändert werden.“43 Den Figuren werden dabei im Text auf der Ebene des discourse verschiedene Informationen zugeschrieben, durch die das mentale Bild des Modell-Lesers von einer Figur verändert wird.44 Jannidis entwickelt hierfür ein Modell zur Beschreibung der Figureninformationen, das sich in vier verschiedene Dimensionen aufteilt: Zuverlässigkeit, Modus, Relevanz und Offensichtlichkeit.45 Unter dem Aspekt Zuverlässigkeit geht es hinsichtlich der Figureninformationen um die Frage, wie zuverlässig die „Quelle ihrer Zuschreibung“46 ist. Unter dem Bereich des Modus wird der Status der Information in eine bestimmte Kategorie eingeteilt.47 Unter dem Aspekt der Relevanz verhandelt Jannidis die Frage, wie bedeutsam eine bestimmte Information für die Figur ist.48 Unter der Dimension Offensichtlichkeit wird untersucht, ob die Zuschreibung einer Figureninformation direkt oder indirekt geschieht.49 In einem weiteren Kapitel widmet sich Jannidis der Charakterisierung, die bei ihm komplementär zum Konzept der Figureninformationen aufgebaut ist.50 Als Charakterisierung bezeichnet Jannidis „die Summe aller relevanten figurenbezogenen Tatsachen in der erzählten Welt“51. Er entwickelt ein Modell zur Charakterisierung, das sich aus den Aspekten Dauer, Menge, Häufigkeit, Ordnung, Dichte, Informationskontext und Figurenkontext zusammensetzt.52
In seiner Untersuchung zu Figuren im Film definiert Eder53 Figuren wie folgt: „Fiktive Wesen sind kommunikative Artefakte, die durch die intersubjektive Konstruktion von Figurenvorstellungen auf der Grundlage fiktionaler Texte entstehen.“54 Er schlägt für eine Figurenanalyse das Grundmodell „Die Uhr der Figur“55 vor, das Figuren in vier verschiedenen Kontexten als fiktive Wesen, Symbole, Symptome und Artefakte untersucht.56 Als fiktives Wesen besitzt eine Figur Eigenschaften und Merkmale innerhalb einer fiktiven Welt. Zu diesen zählen u.a. ihre „physischen, psychischen und sozialen Merkmale, ihr Verhalten, ihre Erlebnisse und Verhältnisse zu Zeiten und Räumen, anderen Figuren und Objekten, konkreten Ereignissen und abstrakten Regeln“57. Als Symbol weist eine Figur auf etwas Größeres, hinter dem Text Stehendes hin, sie ist damit „Träger indirekter oder höherstufiger Bedeutungen jeglicher Art.“58 In der Rolle als Symptom wird die Figur hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Publikum und deren Rezeptionsprozessen untersucht.59 Als Artefakt ist die Figur auf der Ebene der Darstellung das Produkt vielfältiger Gestaltungsformen wie Kameraführung, Schauspielstil, etc.60 Dabei macht Eder deutlich, dass dieses „Uhrenmodell“ lediglich eine Grundlage bildet, auf der in vielerlei Hinsicht aufgebaut werden kann.61
Lahn/Meister62 haben sieben Leitfragen herausgearbeitet, anhand derer eine Figurenanalyse durchgeführt werden kann. Diese lauten: Grad der Profilierung63; Explizite vs. Implizite Charakterisierung; Profilierung im Modus des Zeigens; Prinzipien der Figurenwelt64; Figurentypus65; Genrespezifische Figurenrollen sowie Figurenkonstellationen.66 Dabei müssen ihrer Ansicht nach jedoch stets zwei verschiedene Perspektiven voneinander unterschieden werden: „Einerseits erscheint uns die Figur als ein menschliches oder quasi-menschliches Wesen, mit dem wir […] eine Beziehung eingehen können; andererseits ist die Figur eine symbolische Manifestation gewisser Werte, Ideen oder Konzepte im Gesamtentwurf der Erzählung.“67 Für die Analyse von Figuren ist daher stets diese „doppelte Perspektive“68 zu beachten.
2.3.1.2 Figurenanalyse in der Exegese
Die in der Literatur- und Filmwissenschaft entwickelten Konzepte und Methoden zur Analyse von Figuren sind seit den achtziger Jahren vermehrt auch für die Figurenanalyse in biblischen Erzähltexten angewandt worden. Dabei stützt sich die Figurenanalyse in der Exegese zwar hauptsächlich auf literaturwissenschaftliche Figurenanalyseverfahren, entwickelt zum Teil aber auch eigene Methodenschritte. Aufgrund der Fülle an Forschungsbeiträgen zur Figurenanalyse in der Exegese beschränke ich mich beim folgenden Überblick nur auf diejenigen Figurenanalyseverfahren, die im Hinblick auf diese Arbeit am ertragreichsten und relevantesten erscheinen und die zur Entwicklung der in dieser Arbeit verwendeten Methodik beitragen.
2.3.1.2.1 Allgemeines zur Figurenanalyse in biblischen Erzählungen
Bar-Efrat1 unterscheidet bei der Analyse biblischer Figuren grundsätzlich zwischen einer direkten und einer indirekten Darstellung und Formung von Figuren.2 Zur direkten Charakterisierung gehören seiner Ansicht nach sowohl Aussagen des Erzählers über die äußere Erscheinung3 einer Figur, wie auch die Schilderung ihrer inneren Persönlichkeit.4 Im Bereich der indirekten Darstellung von Figuren untersucht Bar-Efrat zum einen die Rede der Figuren, die Aufschluss über den Standpunkt, die Ansichten und die Gefühle einer Figur gibt.5 Zum anderen widmet er sich ihren Handlungen sowie der Darstellung von Nebenfiguren.6
Powell7 stellt folgende Definition von Figuren in (biblischen) Erzählungen auf: „Characters are constructs of the implied author, created to fullfill a particular role in the story.“8 Bei der Analyse von Figuren schließt sich Powell zum einen der Unterscheidung in telling und showing an.9 Zum anderen spielt seines Erachtens der jeweils zugeschriebene Point of View einer Figur für deren Verständnis eine wichtige Rolle.10 Außerdem spricht Powell im Rückgriff auf Chatman von bestimmten „Character Traits“11, die einer Figur zugeschrieben werden. Dabei können solche Eigenschaften entweder direkt vom Erzähler genannt werden, oder aber sie ergeben sich indirekt aus den Handlungen und Ansichten einer Figur.12 Auf Grundlage der einer Figur zugewiesenen Charaktereigenschaften entscheidet sich demnach, ob eine Figur nach Forsters Definition flach oder rund ist.13 Außerdem greift Powell die von Abrams14 gemachte Definition eines „stock characters” für Figuren mit nur einer Eigenschaft auf. Zuletzt geht Powell auf die Frage ein, wie beim Leser im Hinblick auf eine bestimmte Figur Empathie, Sympathie oder auch Antipathie entsteht. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass Empathie durch eine Ähnlichkeit der Figur zum Leser hervorgerufen wird.15 Sympathie entsteht seiner Ansicht nach, wenn sich der Leser von einer Figur positiv angesprochen fühlt, auch wenn keinerlei Ähnlichkeit der Figur zum Leser vorhanden ist.16 Antipathie beschreibt Powell hingegen als „feelings of alienation from or disdain for particular characters“17.
In ihrer narratologischen Untersuchung des Alten Testaments widmen sich Gunn und Fewell18 auch der Charakterisierung von biblischen Figuren. Hierbei unterscheiden sie zunächst grundlegend zwei Bereiche: Den Bereich des Erzählers und den Bereich der Charaktere.19 Zum Bereich des Erzählers, der den Lesern etwas über die Figur mitteilt, zählt zum einen die Frage nach seiner Verlässlichkeit, d.h. wie die Informationen, die er den Lesern über eine bestimmte Figur zukommen lässt, zu bewerten sind. Dazu zählt die Frage, was der Erzähler über eine Figur erzählt und die Art und Weise, wie er dies tut.20 Darüber hinaus zählen Gunn und Fewell zum Bereich des Erzählers die Beschreibung von Figuren.21 Als drittes schreiben