2.2.2 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell
Im Folgenden soll nun das bei der in dieser Arbeit durchgeführten Figurenanalyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium als Basis dienende und sich aus den im Vorhergehenden vorgestellten Modellen zusammensetzende Erzählmodell kurz skizziert werden. Anschließend werden die verwendeten Begrifflichkeiten erklärt.
2.2.2.1 Erzählmodell
Die im Vorangehenden kurz dargestellten Erzählmodelle haben m.E. jeweils ihre Stärken und Schwächen. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit durchgeführte Figurenanalyse des Auferstandenen scheint daher eine Kombination aus verschiedenen Modellen sinnvoll zu sein.
Hinsichtlich der Einteilung einer Erzählung in verschiedene Ebenen schließe ich mich Chatman, Marguerat/Bourqin, Martinez/Scheffel und Fludernik an, die jede Erzählung grundsätzlich in das, was erzählt wird, und in das, wie etwas erzählt wird, also in Handlung und Darstellung einteilen. Die von Genette als Narration bezeichnete Situation des Erzählens sowie die von Schmid als Präsentation der Erzählung bezeichnete Verbalisierung der Erzählung kann m.E. zu Recht mit Martinez und Scheffel zu dem Bereich der Darstellung gezählt werden, da der Erzähler maßgeblich daran beteiligt ist, wie etwas erzählt wird.
Hinsichtlich der Kommunikationssituation dient mir das Erzählmodell von Chatman als Basis, der den realen Autor aus der narrativen Untersuchung ausklammert und den Adressaten als nicht konstitutiv, sondern optional beschreibt. Anders als Chatman setze ich jedoch den Erzähler als konstitutiv voraus, da m.E. eine Erzählung niemals ohne Erzähler sein kann. Auch trenne ich den Erzähler – im Gegensatz zu Finnern – vom realen Autor, da es zwar große Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Größen geben kann, sie jedoch in einer Erzählung (anders als in einer Autobiographie) nicht automatisch identisch sind. Zudem verwende ich in meinem Erzählmodell nicht den bei Chatman und Marguerat/Bourqin als Summe aller Erzählstrategien verstandenen Begriff impliziter Autor, sondern verzichte wie Genette bewusst auf diese Größe, da sie sich in Erzähltexten nur schwer vom Erzähler abgrenzen lässt und daher nicht wesentlich zur Erzähltextanalyse beiträgt. Auch wird der Begriff des impliziten Lesers in Anlehnung an Finnern gegen den Begriff des intendierten Rezipienten getauscht, der jedoch inhaltlich Schmids Zweiteilung in einen unterstellten Adressaten und in einen idealen Rezipienten sowie Ecos Modellleser folgt. Die Entscheidung für die Verwendung dieser Begriffe wird im Folgenden jeweils erläutert.
Es ergibt sich daher als Grundlage für diese Arbeit folgendes Erzählmodell:
Abb. 9 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell (eigene Darstellung)
2.2.2.2 Begriffsklärungen
2.2.2.2.1 Realer Autor
Der reale Autor ist eine historische Person oder eine Gruppe, die den Text produziert hat, sich dabei folglich außerhalb des Textes befindet. Für alle Erzählungen gilt: „Alle Texte sind von realen AutorInnen verfasst und werden von realen LeserInnen gelesen.“1 Sie und ihr Umfeld zu ergründen ist Aufgabe der historisch-kritischen Exegese. Der reale Autor existiert „outside the text, independently of the text, and can only be reconstructed by historical hypothesis.“2 Daher ist er für die narrative Figurenanalyse von keiner Bedeutung.3 Wer der reale Autor des Matthäusevangeliums und wer der reale Autor des Lukasevangeliums war, in welchen sozialen und kulturellen Umwelten sie ihre Evangelien geschrieben haben, welche Quellen sie dabei verarbeitet haben und wie sie dabei vorgegangen sind, fällt nicht in den Bereich der Narratologie.
2.2.2.2.2 Realer Leser
Beim realen Leser verhält es sich ähnlich wie beim realen Autor: Auch er befindet sich generell außerhalb des Textes. Dabei handelt es sich nicht um eine einzelne Person, sondern um eine unendlich große Anzahl an Menschen, die zu allen Zeiten den Text gelesen haben, lesen und lesen werden (die also später einmal zu realen Lesern werden). 1 Zu rekonstruieren, wer die damaligen Erstleser des Evangeliums waren, auf die der reale Autor sein Evangelium zugeschnitten hat, und wo das Evangelium seinen „Sitz im Leben“ gehabt hat, ist nicht Gegenstand der Narratologie. Denn was im Kopf der Erstleser beim Lesen des Textes vorgegangen ist, welches Vorwissen und welche Verstehensprozesse sie an den Tag legten, kann nicht mehr rekonstruiert werden, da die realen Erstleser sowie der reale Autor im Dunkeln liegen.
Dennoch bin ich als reale Leserin natürlich faktisch an der Erzählung beteiligt, da ich mit meinen kognitiven Verstehens-Prozessen und aus meiner Lebenswelt heraus den Text wahrnehme.2 Bei dieser Wahrnehmung versuche ich jedoch, anhand bestimmter Textsignale die vom Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten und seine vom Text intendierten Reaktionen) zu rekonstruieren.3 Eco spricht dabei sogar von einer gewissen Verpflichtung des realen Lesers, sich dem Code und dem Verstehenshorizont des Modell-Lesers so weit wie möglich anzunähern.4 Darüber hinaus enthält der Text selbst Lese-Anweisungen für eine im Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten) und es geht dabei darum, diese Anweisungen aufzuzeigen, damit sich der reale Leser im Spielraum dieses intendierten Rezipienten bewegen kann.5 Der intendierte Rezipient ist damit eine vom Text angebotene Lese-Rolle, die vom realen Leser eingenommen werden kann, auch wenn diese natürlich im Einzelnen von realen Lesern unterschiedlich eingenommen wird.6
2.2.2.2.3 Intendierter Rezipient
In meinem Erzählmodell verwende ich anstelle des in vielen Erzähltheorien begegnenden Begriffs impliziter Leser1 in sprachlicher Anlehnung an Finnern den Begriff intendierter Rezipient. Finnern versteht jedoch unter diesem Begriff das kognitive Bild, das sich der reale Autor von seinem Leser gemacht hat. Parallel dazu existiert bei ihm das Bild, das sich der reale Leser vom Autor macht.2 Jedoch muss mit Schmid bemerkt werden, dass hier „eine verführerische Symmetrie“3 naheliegt. Denn der Schwachpunkt an Finnerns Konzept des intendierten Rezipienten besteht m.E. darin, dass wir in den Kopf des realen Autors nicht mehr hineinschauen können und dass wir daher nicht wissen, welches Bild vom Leser sich der reale Autor gemacht hat.4 Diese „doppelte Brechung“ des Rezipienten als mentales Konstrukt eines im Dunkeln liegenden realen Autors scheint mehr als problematisch zu sein. Der intendierte Rezipient ist daher in meinem Erzählmodell nicht der vom realen Autor, sondern der vom Text intendierte Rezipient.
Der intendierte Rezipient nimmt dabei in meinem Erzählmodell zwei von Schmid5 herausgearbeitete Funktionen wahr: Er ist zum einen der unterstellte Adressat, der vom realen Leser durch die Wortwahl des Erzählers und die von ihm verwendeten sprachlichen und kulturellen Codes rekonstruiert werden kann. Über die unterstellten Adressaten des Matthäusevangeliums kann z.B. gesagt werden, dass sie wahrscheinlich mit alttestamentlichen Texten vertraut waren, da der Erzähler an vielen Stellen alttestamentliche Zitate anbringt. Gleichzeitig ist der intendierte Rezipient aber auch ein idealer Rezipient, der jede Anspielung im Text versteht, ein Lesegedächtnis besitzt und über ein bestimmtes (historisches und kulturelles) Vorwissen verfügt. Der Text selbst und mit ihm der im Text intendierte Rezipient wird somit historisch sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium im 1. Jhd. n. Chr. verortet.6 Das mögliche Vorwissen des intendierten Rezipienten wird daher in den Fällen mit berücksichtigt, in denen der Text ein solches (historisches oder kulturelles) Wissen vorauszusetzen scheint und gezielt darauf anspielt. Dabei beziehe ich mich in diesem Punkt auf Eco und seinen Modelleser, der über ein bestimmtes, kulturell geprägtes enzyklopädisches Wissen verfügt.7 Darüber hinaus werden bei der Analyse des Textes das Lesegedächtnis des intendierten Rezipienten (das die vorhergehenden Kapitel des Matthäus- oder des Lukasevangeliums umfasst) sowie seine wahrscheinlichen und im Text intendierten Reaktionen