Dass es sich dabei um grundlegende Strukturmuster handelt, die das Böse im Text formal konstituieren, sucht er mittels einer Analyse paradigmatischer literarischer Texte zu veranschaulichen. So sei der Roman Justine, ou les Malheurs de la vertu (1791) des Marquis de Sade ein Beispiel dafür, wie sich das Strukturprinzip der Wiederholung als grundlegend für die Imagination des Bösen erweise. Das Motiv der verfolgten Unschuld dient in diesem Werk der Pervertierung sämtlicher gültiger Moralcodes: Die mit vierzehn Jahren verwaiste Justine wird ein ums andere Mal zum Opfer von Misshandlung, Folter und Demütigung, ohne dass sie sich dabei durch das Festhalten an der Tugend jemals aus dem brutalen Kreislauf der ihr widerfahrenden Grausamkeiten befreien könnte. In der Welt, die hier gezeigt wird, siegt allein das Laster: Während ihre Peiniger sowie ihre tugendlose Schwester Juliette (deren Geschichte in Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice, 1796 erzählt wird) trotz (oder gerade wegen) ihrer ruchlosen Grausamkeiten sozial aufsteigen und prosperieren, wird Justine am Ende vom Blitz erschlagen und die Tugend damit endgültig als vergeblich abgestraft.8 Die Unausweichlichkeit des Bösen, der naturhafte Trieb zum Verbrechen, die die Basis der Sade’schen Philosophie bilden, fänden nun ihre Entsprechung in der narrativen Organisation des Werkes:
Dem Spiel der ewigen Reproduktion [des Bösen] gleicht das ästhetische Prinzip der Erzählung, das die Protagonistin in identischen Situationen der moralischen Gefährdung zeigt. Monoton sind nicht nur die Erfahrungen, die Sades Heldin durchläuft; monoton ist auch die Sprache, die Orgien, Vergewaltigungen, Folterungen und Mordtaten mit durchgehender Nüchternheit und Kälte schildert.9
Alt betont hier, es sei eben nicht die Geste der Überschreitung,10 die bei Sade die Erzählung bestimme, sondern »die serielle Logik automatisierter Wiederholung«.11 Eine Beobachtung, die auch Sabine Friedrich macht, obgleich sie mit dem Transgressionsmodell Batailles arbeitet.12 Damit wird die Wiederholungsstruktur als essentielles Formkriterium des Bösen im literarischen Text etabliert, wie Alt auch an weiteren Werken (Blake, Barlach, Sartre, Mann, Mirbeau, Süßkind, Huysmans, Sacher-Masoch, Wilde) nachzuweisen sucht.13 Erst durch die narrative Reproduktion des Ereignisses, die Unendlichkeit und Unausweichlichkeit suggerierende Repetitio wird der Gegenstand wahrhaft »böse«. Auf die Bedeutsamkeit dieser Feststellung wird in den folgenden Kapiteln noch detaillierter einzugehen sein.
Neben die Wiederholungsstruktur treten darüber hinaus die Formen der Paradoxie und der Transgression als konstitutive Grundfiguren des Bösen. Erstere ließe sich besonders an Goethes Mephisto veranschaulichen, der als Exemplum des Heterogenen (nicht im Bataille’schen Sinne), des unsteten, permanent im Wandel begriffenen Nicht-Greifbaren das Böse als Paradoxie erfahrbar macht. Mephisto könne sich nur durch widersprüchliche Begrifflichkeiten und Bestimmungen definieren, ohne dabei jemals eine konkrete Gestalt zu gewinnen (und dies sowohl auf begrifflich-konzeptueller Ebene als Vertreter des Prinzips des »malum« sowie auf rein textueller Ebene, insofern als Mephisto wortwörtlich die Gestalt wechselt).14 Damit wird das durch Mephisto inkarnierte Prinzip des Bösen weniger in dualistischer Abhängigkeit zum Guten, oder auch ex negativo gedacht, sondern vielmehr als irrationale Kraft, die die Regeln der Logik und traditionelle diskursive Bestimmungen unterläuft.15 Anders als die ›konventionelle‹ Allegorie des Teufels (und damit der Sünde) gewinne Goethes Mephisto eine neue subversive Potentialität, die sich in der Figur der Paradoxie modelliert: »Die ästhetische Erfahrung des Bösen vermittelt sich über die Dekonstruktion jeglicher Kohärenz im Entwurf einer Multipersonalität, welche die paradoxe Beschaffenheit des Höllenboten als Spielart seiner auf neue Art bedrohlichen Ubiquität ausweist«.16
Das dritte Grundmodell, das Alt vorschlägt, ist schließlich die Transgression, die Überschreitungsgeste. Wie auch Bohrer sich schon auf Edgar Allan Poe berief, verweist er im Zusammenhang damit auf dessen Erzählung The Black Cat (1843), welche die Transgressionsbewegung exemplarisch veranschauliche. In der Retrospektive erläutert ein verurteilter Krimineller kurz vor seiner Hinrichtung seinen Werdegang vom vormals verantwortungsbewussten Ehemann und liebevollen Tierliebhaber zum kaltblütigen, grausamen Mörder. Die Ich-Perspektive gestattet somit einen beunruhigenden Blick in die Tiefen der Verbrecherpsyche bzw. in die Genese des Verbrecherbewusstseins, welche sich in einer kontinuierlichen Überschreitungsbewegung vollzieht und so mit dem novellistischen Grundmuster der dramatischen Zuspitzung korrespondiert.17 Der anfangs noch sittsame Protagonist verfällt dem Alkohol und verliert im Zustand der Trunkenheit zunehmend die Beherrschung – bis er eines Tages seinen Lieblingskater Pluto zu quälen beginnt. Es treibt ihn dabei eine dem Erzähler zufolge primitive, menschliche Kraft (»one of the primitive impulses of the human heart«) an, der Geist der Perversität (»spirit of perverseness«).18 Bewegt von diesem Geist, Böses zu tun, bringt er den Kater schließlich kaltblütig (»in cold blood«)19 um, woraufhin kurze Zeit später ein Kater auftaucht, der bis auf einen kleinen hellen Fleck am Hals dem toten Kater bis zum Verwechseln ähnlich sieht. Die anfängliche Zuneigung, die er dem Tier entgegenbringt, wandelt sich jedoch schnell in Hass und in die Unmöglichkeit, die mahnende Präsenz des Katers ertragen zu können. Durch die permanente Anwesenheit des Tieres wortwörtlich in den Wahnsinn (»madness«) getrieben, ergreift der Protagonist schließlich eine Axt, um dem Kater den Garaus zu machen, doch wirft sich seine Frau schützend dazwischen und wird somit zum Opfer des rasenden Erzählers, der ihr besessen von einer »rage more than demoniacal« den tödlichen Axthieb verabreicht.20 Sofortig setzt er alles daran, die Leiche seiner Frau zu verstecken und beglückwünscht sich selbst ob seiner exzellenten Idee, sie im Keller des eigenen Hauses einzumauern. Zwar leicht irritiert angesichts des Verschwindens des Katers, der seit dem Mord an seiner Frau nicht mehr gesehen ward, doch selbstsicher aufgrund seiner kriminellen Gewitztheit, tritt der Erzähler auch dann noch selbstbewusst auf, als die Polizei unangekündigt sein Haus zu durchsuchen beginnt. Zunächst scheint das ›Grab‹ im Gemäuer übersehen zu werden, doch werden die Anwesenden bald eines klagenden Lautes aus der Kellerwand gewahr. Man macht sich unverzüglich daran, die Wand aufzubrechen und schließlich wird so die Leiche mitsamt dem Kater, den der Erzähler versehentlich mit eingemauert hatte, gefunden.
Wie aus der Nacherzählung der Kurzgeschichte ersichtlich wird, vollzieht sich die Bewegung des Bösen in einer graduellen Transgressionsbewegung: Folter des einstmals geliebten Katers Pluto, Mord an eben jenem und schließlich Mord an der Ehefrau. Und diese Transgression sei notwendigerweise an einen moralischen Normhorizont gebunden,21 da jede Überschreitung einer Grenze bedarf, um überhaupt als solche wahrgenommen zu werden. Diese Limitierungen, meint Alt zudem, scheinen in The Black Cat kontinuierlich neu gesetzt, nur um schließlich wieder überschritten zu werden. Deutlich werde hier auch, worin der Unterschied zu der Wiederholungsfigur besteht, die das Œuvre Sades charakterisiert: Das Böse bleibt bei Poe auf ein Gutes bezogen. »Anders als bei Sade bleibt das Böse in Poes Geschichte an eine Grenzverletzung und Grenzüberschreitung geknüpft. Wo Sades Helden die Geltung der Moral programmatisch negieren und moralische Selbstverpflichtung im Zeichen zynischer Vernunft als die sexuell unbefriedigendste Form des menschlichen Egoismus deuten, bleibt die gute Gegenwelt des Bösen bei Poe in Kraft.«22 Die eigentümliche Korrespondenz von moralischer Transgression und formal-struktureller Überschreitungsbewegung der Novelle macht das Böse ästhetisch erfahrbar bzw. nachvollziehbar – es lässt sich in diesem Sinne vom Bösen als ästhetischem Phänomen sprechen.
1.1.4 Zwischenfazit
Das Konzept Bohrers bringt den Vorteil, das Phänomen des Bösen nicht allein als abstrakte, ethische Kategorie zu begreifen, sondern vielmehr als spezifisch literarisches Produkt. Gleichzeitig ist eben jener Moment der Absolutheit des imaginativen Bösen einer, der sich vor allem durch seine Gegenwärtigkeit, durch die Präsenz der Stimmung auszeichnet und sich so theoretisch der Theorie Georges Batailles annähert, der das Böse in Relation zur Transgression und zur unmittelbar-instantanen, ekstatischen Erfahrung setzt. Dass dieser Ansatz jedoch auch durchaus problematisch ist, haben die zahlreichen Kritiker Bohrers hinlänglich erläutert. Friedrich versucht demnach, das Konzept Bohrers mit dem Batailles zu kombinieren, indem sie zunächst Semantiken des Bösen im Text beschreibt und analysiert, um schließlich spezifische Vertextungsstrategien aufzudecken, die diese inhaltlichen,