Wie auch bei Flaubert handelt es sich bei Pasolini um einen Autor und Regisseur, zu dessen Werken (sowohl filmisch als auch literarisch) bereits gearbeitet wurde. Auch sein letzter Film Salò o le 120 giornate di Sodoma fand und findet in der Wissenschaft nach wie vor Beachtung.43 Umfassend setzt sich besonders Klaus Theweleit mit dem Aspekt des Faschismus in Pasolinis Film auseinander.44 Im Rahmen dieser Arbeit soll vor allen Dingen die filmische Umsetzung der Schockästhetik Sades in Salò Beachtung finden,45 wobei gleichwohl ihre unterschiedlichen Funktionen sowie die Umdeutungsprozesse, die Pasolini vornimmt, herausgearbeitet werden sollen. Verfahren der Zuschauer- bzw. Leseraktivierung46 und die Frage nach den Möglichkeiten einer ethischen Erfahrung durch visuelle Grenzerfahrungen (oder diesen zum Trotz) stehen dabei im Mittelpunkt. Diese Arbeit sucht damit insofern einen neuen Blickwinkel auf Pasolinis Salò zu bieten, als dieser in Bezug zu Texten des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gesetzt wird, um Parallelen aufzuzeigen, die so noch nicht erarbeitet wurden.
Die literarische Bewegung der giovani cannibali kann in gewisser Weise als repräsentativ für einen Trend der Kunst der 90er Jahre gelten. So erschienen in den Folgejahren nach der Veröffentlichung des Sammelbands Gioventù cannibale mehrere Studien, die diesem literarischen Zeitgeist-Phänomen Rechnung zu tragen suchten.47 Zu Aldo Noves und Ammanitis Erzählsammlungen liegen bisher vornehmlich kleinere Beiträge vor, die vor allen Dingen den Aspekt der im Text abgebildeten Konsumgesellschaft besprechen.48 Im Kontext dieser Arbeit sollen jedoch bereits vorgenommene Interpretationen durch Überlegungen zu der Bedeutung des Textes im europäischen Vergleich ergänzt werden. Besonders die Gegenüberstellung mit den Romanen Houellebecqs wird sich dabei als aufschlussreich erweisen.
In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei letzterem um einen äußerst medienpräsenten Autor handelt, überrascht es wenig, dass besonders in den letzten Jahren eine Reihe an Publikationen zu seinen Werken erschienen ist. Dass sich in seinem Falle gar von einem »Phänomen« sprechen lässt, bestätigen diverse Titel, die es sich zum Ziel setzen, eben diesem analytisch auf den Grund zu gehen, darunter z.B. der von Thomas Steinfeld herausgegebene Sammelband Das Phänomen Houellebecq (2001), die 2005 erschienene Monographie Houellebecq non autorisé: enquête sur un phénomène von Denis Demonpion, ferner Dominique Noguez’ Titel Houellebecq, en fait (2003) oder auch der von Murielle Lucie Clement und Sabine van Wesemael herausgegebene Band Michel Houellebecq sous la loupe (2007) sowie der vornehmlich an literaturpraktischen und ästhetischen Aspekten interessierte Sammelband von Sabine van Wesemael und Bruno Viard (Hg.), L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013. Houellebecq, der zunächst als enfant terrible den Literaturmarkt aufmischte, wurde damit auch zunehmend Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Dass sich sein Œuvre nicht allein in einer aggressiven Provokationsgeste und der Vulgarität des Obszönen erschöpft, sondern darüber hinaus über einen gewissen Ideenreichtum philosophischer Natur verfügt, legen Publikationen wie Dietmar Horsts Houellebecq der Philosoph: ein Essay (2006) und Julia Prölls Monographie Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs: die Möglichkeit existenzorientierten Schreibens nach Sartre und Camus49
Ein Novum ist es jedoch, konkret nach der Natur des Houellebecq’schen literarischen Bösen bzw. nach den Funktionen und Formen von Schockstrategien zu fragen und dies unter Berücksichtigung von Verfasstheit und Wirkung sowie von ethischen Implikationen. Neu ist dabei auch, sein Œuvre mit einer literarischen Tradition in Verbindung zu bringen, die Bohrer einst die »Schule des Bösen« taufte bzw. durch einen komparatistischen Vergleich auf synchroner Ebene zur italienischen und amerikanischen Literatur und Filmkunst in Beziehung zu setzen. In Bezug auf die Möglichkeit einer literarischen Ethik im Werk Houellebecqs (u.a.) hat Susanna Frings52 jüngst ein Werk veröffentlicht, dem weniger die Annahme eines absoluten Pessimismus zugrunde liegt, als vielmehr die Diagnose eines »retour au roman« und gleichbedeutend damit der Möglichkeit einer kritischen Weltbesprechung im Raum der Literatur, die dem Leser das Angebot der ethischen Erfahrung macht. Ihr Ansatz einer literarischen Ethik, der nach den Bedeutungspotentialen für den Leser fragt, kann damit auch im Rahmen dieser Arbeit nutzbar gemacht werden.
Während also für Houellebecqs Romane Extension du domaine de la lutte, Les Particules élémentaires, Plateforme und La Possibilité d’une île durchaus bereits (größere) Publikationen vorliegen, ist der preisgekrönte Roman La Carte et le Territoire (natürlich auch aufgrund seiner relativen Neuheit) bisher nur in kleineren Beiträgen53 zur Sprache gekommen, darunter u.a. »Von Körper-Bildern und Zerstückelungen: Zu thematisch-poetologischen Text-Bild-Beziehungen in Michel Houellebecqs La carte et le territoire und zur Autofiktion als Aktionskunst« von Betül Dilmac54 sowie Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität. Autofiktion und Medienreflexion bei Michel Houellebecq, Walter Siti und Giulio Minghini«.55 Die vorliegende Arbeit kann damit auch neueren Entwicklungen innerhalb des Houellebecq’schen Œuvres Rechnung tragen. Es wird damit insofern eine Lücke geschlossen, als Verfahren der literarischen Provokation in Hinblick auf Funktion und Wirkungsweise sowohl in synchroner als auch diachroner Perspektive aufgedeckt werden. Damit kann schließlich ebenfalls eine Aussage über den Status der Gegenwartsliteratur bzw. über einen wichtigen Trend eben dieser getroffen werden.
1 Theoretische Vorüberlegungen
1.1 Böses schreiben – böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik
1.1.1 Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie
Die Literatur des 18. und insbesondere 19. Jahrhunderts scheint den sich vollziehenden Umwertungsprozess der Kategorie des Bösen zu belegen: Die Tatsache, dass sich Gattungen wie die des Schauerromans besonderer Beliebtheit erfreuen, bescheinigt den Reiz am Abseitigen. Darüber hinaus erfährt das Böse in den Werken einflussreicher und viel diskutierter Autoren wie de Sade, Choderlos de Laclos, Lautréamont, Baudelaire, Flaubert oder Huysmans unbestreitbar eine fundamentale Radikalisierung – und Positivierung. Der Titel von Baudelaires skandalträchtigem Gedichtband Les Fleurs du mal vermag bereits exemplarisch die zunehmende Annäherung der Kategorie des Schönen und der des Bösen zu veranschaulichen. Hinzu kommt, dass – wie Peter-André Alt vermerkt – ein »Wechsel im Register