Um sich in der Folge der Frage zu nähern, welcher Beschaffenheit die Empfindungen tatsächlich sind, die das Böse als ästhetisches Phänomen bzw. eine auf Schock und Provokation ausgerichtete Schreibweise provozieren, wird das Augenmerk auf die Natur der ästhetischen Erfahrung23 und der ästhetischen Empfindungen gelenkt. Im Zusammenhang mit einer Theorie der Schockästhetik ist es notwendig, besonders auf jene Erlebniskategorien zurückzugreifen, die bereits in der Antike, besonders aber im 18. und 19. Jahrhundert im Kontext einer Ästhetik des Hässlichen diskutiert wurden: das Erhabene,24 den Ekel25 und das Obszöne.26 Die Theorie des Erhabenen bietet einen Ansatz, das Phänomen des Bösen in der Literatur auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive zu beschreiben, da es sich sowohl im Fall des »klassisch« Erhabenen als auch in dem des Bösen um ein wahrnehmungsspezifisches Grenzphänomen handelt, das den Geist des Rezipienten herausfordert, der drohenden Überwältigung durch die Sinne standzuhalten. Besonders in der Moderne wird diese wirkungsästhetische Kategorie durch weitere Paradigmen ergänzt: Allgemein kann in den Medien eine Tendenz zum Ekelhaften und Obszönen verzeichnet werden, sei es Film, Kunst, Theater oder Literatur. Hannelore Schlaffer registriert gar einen »ästhetischen Stilwandel im Zeitalter der nicht-mehr-schönen Künste«27 und führt insbesondere das Ekelhafte als kennzeichnendes Charakteristikum der Kunst des 20. Jahrhunderts an – was sich augenscheinlich im Werk Houellebecqs fortsetzt. Diese beiden Kategorien verbinden sich dabei nicht selten mit der Idee des Bösen, wie bei de Sade: Die obszöne Lust am Transgressiven und die dezidierte sprachliche Vergegenwärtigung von Leid, Qualen und Gewalt provozieren gerade den für den Rezipienten erlebten Schockmoment, in dem ein moralisch-ethisch bzw. theologisch begründetes Tabu berührt wird – und damit auch die Idee des Bösen. Eine Prüfung der Erlebniskategorien des Erhabenen, des Ekels28 und Obszönen29 soll ein Dispositiv schaffen, sich dem Phänomen als einem literarischen, materiellen und damit auch sinnlich erfahrbaren Gegenstand anzunähern und damit seine wirkungsästhetischen Qualitäten beschreibbar zu machen.
In einer Analyse der Wirkungspotentiale des »bösen Textes« erschöpft sich eine umfassende Betrachtung jedoch nicht. Geht man mit Gadamer und Ricœur30 davon aus, der Text sei letztendlich das aus einem Kommunikationsbedürfnis entsprungene Produkt, das ein Autor innerhalb einer abstrakten Kommunikationssituation an einen nicht näher bestimmten Empfänger/Leser sendet, dann muss danach gefragt werden, welcher Natur diese Botschaft ist. Dies bedeutet auch: Welche Aussage über die Welt, ihre Referenz, wird getroffen? Und damit einhergehend: Welcher Natur ist das Böse, welches im Text inszeniert wird? In einer Untersuchung, der die Wirkungsästhetik als Selbstzweck zugrunde liegt, können jene Aspekte nicht hinlänglich behandelt werden. Daher soll in dieser Arbeit nicht allein die Form Gegenstand der Untersuchung sein, sondern auch die Idee, die schließlich im Text entwickelt wird: und damit etwaige ethische Implikationen, die fern eines rein ästhetischen Konzeptes des Bösen transportiert werden. Die vorliegende Studie folgt damit grundsätzlich den Annahmen der Hermeneutik, um den im Text gegebenen Ideengehalt unter Berücksichtigung des historischen Kontexts und damit seiner außerliterarischen Referenz adäquat entschlüsseln zu können. Eine Auseinandersetzung mit dem Text, die also sowohl nach den Sinnpotentialen als auch nach der Verfasstheit des Textes (und folglich den Mitteln, mit denen der Rezeptionsakt seitens des Lesers in Hinblick auf Wirkung und Reflexion gelenkt werden kann) fragt, ist daher auch mit Isers31 Modell der Rezeptionsästhetik vereinbar: Welcher Bedeutungsgehalt erschließt sich dem Leser und wie kann er von jenem reflexiv nachvollzogen werden? Stellt sich gar eine Form der ethischen Erfahrung ein, die dem Leser Rückschlüsse auf und Erkenntnisse über seinen eigenen Bezugshorizont erlaubt? Ziel ist es demnach, die Wirklichkeitsreferenz zu betrachten, d.h. die Möglichkeit ethischer Implikationen, und zudem die spezifisch literarischen Mittel aufzudecken, die eine solche ethische Lektüre befördern können.32 Dies erlaubt darüber hinaus auch, die Grenzen einer solchen Lektüre zu bestimmen, d.h. jenen Moment zu lokalisieren, an dem eine Form des »inkommensurablen Bösen« auftritt, das nicht mehr aufhebbar ist und sich damit dem von Bohrer skizzierten präsentischen Phänomen des ästhetischen Bösen annähert.
Ferner wird es für die vorliegende Arbeit notwendig sein, auf den Begriff und die Theorie des Skandals33 zurückzugreifen. Dieser lässt sich in seiner Dramaturgie als ein dem Theater nicht unähnlicher, mehrschrittiger, öffentlicher Kommunikationsprozess zwischen einem Skandaliertem, einem Skandalierer und einem Publikum beschreiben. Auslöser für einen Skandal ist dabei stets ein tatsächlich vorliegender oder lediglich angenommener Normbruch seitens einer Person, einer Gruppe oder Institution, welcher in der Folge publik gemacht wird und öffentliches Ärgernis erregt. Die Theorie des Skandals ist im Kontext der vorliegenden Arbeit deswegen so fruchtbar, weil sie systematisch Aspekte, die die Wirkungsästhetik betreffen, mit ethikbezogenen vereint. Nicht nur ist ein Skandal als öffentliche Inszenierung zu verstehen, die den Mechanismen der Schaulust gehorcht, sondern er kann gleichsam als Normenbarometer fungieren, indem er aufzeigt, welche Themen und Normen im öffentlichen Bewusstsein besonders sensibel sind. Übertragen auf die Literatur ermöglicht ein solches Verständnis von der Dynamik des Skandals, Rückschlüsse auf den Status der Literatur im Allgemeinen zu ziehen. Gerät ein literarisches Werk öffentlich unter Beschuss, indiziert dies einerseits, welche Art der Normverletzung vorliegt, andererseits aber auch, welchen Einfluss Literatur und Kunst generell in der Öffentlichkeit haben bzw. welchen Status sie genießen.
Zur Textselektion
Im Rahmen dieser Arbeit sollen Texte untersucht werden, die als paradigmatisch für eine »böse Schreibweise« gelten können. Im Titel dieser Arbeit sind dabei bereits wichtige Momente in der Literaturgeschichte benannt. Zunächst sollen literarische Erzeugnisse der Ecole du mal des 19. Jahrhunderts, genauer: Texte von Gustave Flaubert und Octave Mirbeau, betrachtet werden, da diese einerseits den Wandel markieren, der sich innerhalb des literarischen Diskurses über das Böse vollzogen hat: und dies sowohl auf der Ebene der Wirkungsästhetik als auch auf der des Inhalts. Die Literatur sucht, sich in Ablehnung der bürgerlichen Moral einen autonomen Bereich zu erschließen. Andererseits erlaubt eine Analyse eben dieser Texte, die Systematiken einer Schockästhetik weiter auszudifferenzieren, welche sich dann auf das Werk Michel Houellebecqs übertragen lassen. Somit soll zunächst am Beispiel von Gustave Flauberts Salammbô Bohrers These zum ästhetischen Bösen nachvollzogen werden. Gleichermaßen sollen jedoch auch die Grenzen einer solchen Deutung aufgezeigt werden – und dies auch unter Berücksichtigung von Sabine Friedrichs Überlegungen zur Imagination des Bösen. Von besonderem Interesse werden im Zuge einer textanalytischen Betrachtung des Gegenstandes vornehmlich auch narratologische Aspekte sein – insbesondere der narrateur impassible. Dabei soll aufgezeigt werden, inwiefern die Narration bzw. die Erzählsituation und der im Text verhandelte Gegenstand interagieren und in Abhängigkeit voneinander ein spezifisch literarisches Böses hervorbringen. Bei Flauberts Roman Salammbô handelt es sich gewiss um einen bereits umfassend diskutierten Text, für den ich in diesem Kontext keine Neuinterpretation vorschlage. Dennoch soll der Roman die Referenzfolie für die folgenden Analysen darstellen, da die durch Bohrer und Friedrich bereits durchexerzierte Interpretation mit Schwerpunkt auf den ästhetischen Qualitäten des Textes gleichwohl für eben jene Dimension des literarischen Werks im Allgemeinen sensibilisiert. Doch findet sich dieser Ansatz zusätzlich durch Aspekte der narrativen Ethik sowie der Theorie des Ekels und des Skandals komplementiert.
Ein weiterer Text, den ich im Rahmen dieser Untersuchung in Hinblick auf thematische Schwerpunkte und Wirkungsästhetik untersuchen möchte, ist Octave Mirbeaus dekadenter Roman Le Jardin des supplices (1899). Mehr noch als Flauberts Salammbô lässt sich diesem Werk eine ausnehmend aggressive Wirkungspoetik zuschreiben, die auf den ersten Blick sämtliche positiven ethisch-moralischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt und im Raum des Literarischen ein neues Regime des Bösen in Kraft treten lässt. Wirkungsästhetisch besteht der Auftrag des Romans zunächst in der Irritation des Lesers durch eine Initiation in den Raum des Sadistischen, Obszönen und Ekelhaften. Zugleich wird aber auch eine Aussage über die Natur des Menschen getroffen, eine Idee des Bösen verhandelt, die als Teil der menschlichen Natur verstanden wird. Wie die Schock- und Ekelstrategien Mirbeaus verwendet