Ähnlich konzipiert auch Schiller in Anlehnung an Kant das Erhabene als sekundäre Lust, die in der Überlegenheit des Vernunftmenschen gegenüber seiner Machtlosigkeit als physisches Naturwesen besteht: »Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den kürzeren ziehen, über welches wir uns aber moralisch, d. i. durch Ideen erheben.«18 Schillers Ausführungen zum Erhabenen basieren auf der Grundannahme, dass der Mensch als Sinnenwesen von zwei maßgeblichen Trieben geleitet wird – und zwar einerseits dem »Vorstellungstrieb« bzw. »Erkenntnistrieb« und dem »Selbsterhaltungstrieb« andererseits. Diese setzen ihn in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Natur, welches für den Menschen spürbar wird, »wenn es die Natur an den Bedingungen fehlen läßt, unter welchen wir zu Erkenntnissen gelangen« bzw. »wenn sie den Bedingungen widerspricht, unter welchen es uns möglich ist, unsre Existenz fortzusetzen«.19 Moralisch unabhängig kann sich der Mensch dann fühlen, wenn er sich einerseits mehr denken kann als unter den naturgegebenen Bedingungen erkenntlich ist; andererseits kann er sich kraft des Willens über die naturgebundenen Begierden hinwegsetzen. Solche Objekte, die sich dem Erkenntnistrieb widersetzen, sind jene, die die Idee der Unendlichkeit implizieren; jene, die hingegen dem Selbsterhaltungstrieb trotzen, sind »furchtbare« Gegenstände, die »den Bedingungen unsers Daseins widerstreite[n]«.20 Damit nimmt Schiller eine Unterscheidung vor, die im Grunde jener Kants vom mathematisch und dynamisch Erhabenen entspricht, jedoch terminologisch bei ihm als »Theoretischerhabenes« und »Praktischerhabenes« gefasst wird. Letzteres bezeichnet er auch als Erhabenes der Macht, für das sich eine weitere Unterscheidung anbietet, die den verschiedenen Beziehungsarten Rechnung trägt, in denen sich das Subjekt zum Gegenstand des Erhabenen befinden kann: das Kontemplativ- und Pathetischerhabene. Zur ersten Kategorie zählen jene Objekte, die zwar eine Naturmacht darstellen (wie ein Meeressturm, Gewitter, ein Vulkan etc.), die jedoch erst vermittels der Einbildungskraft auf den Selbsterhaltungstrieb bezogen werden müssen und damit erst in der Vorstellung des Subjekts furchtbar werden.21 Das Pathetischerhabene hingegen ist das Leiden selbst – das im ersten Fall ja gleichsam hinzugedacht werden muss –, genauer: die »Vorstellung eines fremden Leidens, verbunden mit Affekt und mit dem Bewußtsein unser innern moralischen Freiheit«.22 Doch ähnlich wie Burke und auch Kant macht Schiller die Bedeutsamkeit der Distanz als Bedingung für das Gefühl des Erhabenen geltend, ohne welche ein ästhetisches Urteil unmöglich ist.
Die traditionelle ästhetische Debatte um das Erhabene, wie sie von Burke begründet und von Kant und Schiller fortgeführt wurde, wird schließlich erst im 20. Jahrhundert von Jean-François Lyotard wiederaufgegriffen. Dabei beruft er sich vornehmlich auf die Kant’sche Definition des Erhabenen, um sie in Bezug auf die bildnerische Kunst der Avantgarde einer radikalen Neuinterpretation zu unterziehen.23 Das Nicht-Darstellbare, d.h. das Versagen der Einbildungskraft als Mittler zwischen Sinnlichkeit und Ratio, absolute Begriffe wie Unendlichkeit darzustellen, wird bei Lyotard zum Kernbegriff und zum »negative[n] Zeichen […] für die Unermeßlichkeit der Macht der Ideen«.24 Die Gemeinsamkeit von moderner und postmoderner Kunst der Avantgarde liegt ihm zufolge daher in dem Streben, dem Unverfügbaren »Raum« zu gewähren. Im Rückgriff auf Heideggers »Ereignis«-Begriff konzipiert Lyotard das Nicht-Darstellbare als ein »es geschieht«, ein gegenwärtiges Ereignis in all seiner Blöße, und das Erhabene als Schockmoment der doppelten Beraubung: einer primären Beraubung des Ereignisses selbst, die Schrecken erzeugt, und einer sekundären Beraubung der Drohung, die sich als Erleichterung entäußert. Sein Kommentar zur avantgardistischen Kunst lautet wie folgt:
Angespornt durch die Ästhetik des Erhabenen, können und müssen die Künste, welches auch immer ihre Materialien sind, auf der Suche nach intensiven Wirkungen von der Nachahmung lediglich schöner Vorbilder absehen und sich an überraschenden, ungewöhnlichen und schockierenden Kombinationen versuchen. Und der Schock par excellence ist, daß es geschieht, daß etwas geschieht und nichts, daß die Beraubung suspendiert ist.25
Lyotard rehabilitiert damit den Begriff des Erhabenen im Kontext einer Ästhetik der Postmoderne, die sich dem Versuch verschreibt, das schiere Faktum der Existenz eines Nicht-Fassbaren aufzuzeigen.
1.2.4 Der Ekel
Eine Theorie des Erhabenen löst das scheinbare Paradoxon des Wohlgefallens an per se missfälligen Gegenständen auf und beschreibt dabei gleichsam ästhetische Wirkungsweisen schauerlicher Gegenstände, die, wie im Vorigen beschrieben, unterschiedlicher Natur sein können. Die dergestalt provozierten Primäraffekte wie Schaudern, Angst, Überwältigung etc. sind dabei ästhetisch genießbar. Tatsächlich findet sich jedoch vor allen in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts recht einhellig ein Affekt vom ästhetisch Bekömmlichen ausgeschlossen: der Ekel. So bei Kant: »nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit, zugrunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel erweckt.«1 Kant zufolge handelt es sich also um eine Form der ästhetischen Aggression, die nicht mehr aufhebbar ist. Auch Moses Mendelssohn stimmt dem zu und findet folgende Begründung:
Hier zeigen sich schon handgreifliche Ursachen, warum der Eckel von den unangenehmen Empfindungen, die in der Nachahmung gefallen, schlechterdinges ausgeschlossen sey. Vors erste, ist der Eckel eine Empfindung, die in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit nach, blos den allerdunkelsten Sinnen, als dem Geschmack, dem Geruche und dem Gefühle zukommen, und diese Sinne haben überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste. Die Nachahmung in den Künsten arbeitet blos für die deutlichere Sinne, für das Gesicht und das Gehör. Das Gesicht aber, hat keine eigene ekelhafte Gegenstände; […].2
Der Ekelaffekt berührt im Unterschied zu ›edleren‹ Empfindungen wie Angst, Schauder, Wut etc. die »allerdunkelsten Sinne«, die gegenüber dem durch den Kunstgebrauch geadelten Sehsinn und Gehör als Kontaktsinne deutlich ›leibgebundener‹ sind. Für Mendelssohn ist der Ekel nicht abstrahierbar; allein die Vorstellung eines ekelerregenden Gegenstands genüge, um selbigen hervorzurufen.3 Tatsächlich handelt es sich beim Ekel um einen Primäraffekt (wie Angst, Trauer, Freude, Überraschung, Wut), d.h. »[s]ein mimischer Ausdruck ist dem Menschen von Geburt an verfügbar«.4 Doch zeichnet er sich wohl besonders durch seine Körperbezogenheit und Intensität aus, wie Liessmann bemerkt: »Kein Affekt kommt, im wörtlichen Sinn, so aus den Tiefen der Eingeweide des Menschen wie der Ekel; und kein Affekt wird, metaphorisch gewendet, so sehr zum Indiz einer metaphysischen Misere wie der Ekel.«5
Obgleich er sich dergestalt zunächst als immediater und leibgebundener Affekt präsentiert, kommen ihm diverse Funktionen und Wertigkeiten zu, je nachdem in welchem Kontext er manifest wird. Zu differenzieren sind hier die Ebene der Ästhetik, der Physis, der Philosophie und der Ethik.6 Ästhetisch ist der Ekel, wie aus Kants und Mendelssohns Bemerkungen ersichtlich wurde, vor allen Dingen der Gegenpol des Schönen, »Kehrseite des ästhetischen goût«, der das ästhetisch Genießbare transzendiert.7 Gleichzeitig ist er aber nicht nur das »schlechthin Andere[s]« des Ästhetischen, sondern auch »eigenste Tendenz des Schönen«:8 Wie Menninghaus vorführt, kann ein Zuviel an Schönem zum Überdrussekel führen, der sich einstellt, wenn nach der Sättigung durch einen als positiv (schön) bewerteten Reiz dessen Fortbestehen oder Übermaß als unangenehm empfunden wird. Gleich einer Süßigkeit, derer man zuviel isst, wird das in geringen Mengen Schmackhafte unbekömmlich.9 Damit ist »das Schöne [ist] an sich selbst zugleich das (tendenziell) Ekelhafte; es ist aus sich heraus von der Gefahr bedroht, sich unversehens als ein Vomitiv zu erweisen.«10 Jedoch wird der Ekel bereits am Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext von Sensualismus und den frühromantischen Erlebnispoetiken gleichsam zum Maximalreiz promoviert.11 Friedrich Schlegel diagnostizierte dabei das Choquante, »sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich« als grundlegende Tendenz der Kunst, die immer stärkere Effekte zu provozieren sucht.12
Physisch ist der