Die Analyse von Schockstrategien der Literatur (und des Films) soll nicht nur auf diachroner Ebene, sondern auch auf synchroner Ebene vorgenommen werden. Zwei Jahre bevor Houellebecqs Roman Les Particules élémentaires erschien, wurde beim Verlag Einaudi eine Anthologie von Erzählungen, nämlich der Band Gioventù cannibale. La prima antologia dell’orrore estremo, veröffentlicht. Diese war das erste literarische Zeugnis einer neuen Autorengeneration, die sich von der nach wie vor durch Italo Calvino beherrschten Höhenkammliteratur bewusst verabschiedete und vielmehr eine neue blutrünstige Ästhetik entwickelte: die sogenannte letteratura pulp (in Anlehnung an den 1994 erschienenen Kultfilm Pulp Fiction von Quentin Tarantino). Repräsentativ für diese Literatur sind einerseits exzessive Gewaltdarstellungen, andererseits ein spielerischer Umgang mit diversen Genres der Popkultur sowie eine starke Medienbezogenheit. Aldo Nove und Niccolò Ammaniti waren unter anderem als Autoren an der Anthologie Gioventù cannibale beteiligt und publizierten im gleichen Jahr jeweils eigene Erzählsammlungen: Noves Woobinda o altre storie senza lieto fine und Ammanitis Fango. Sowohl Woobinda als auch Fango erweisen sich als paradigmatisch für die Poetik der »giovani cannibali«. Anhand einer detaillierten Analyse von Noves Eingangserzählung Il bagnoschiuma und Ammanitis Kurzroman L’ultimo capodanno dell’umanità soll jedoch gezeigt werden, dass die effekthascherische Schockästhetik der »cannibali« durchaus einem gesellschafts- und medienkritischen Impetus folgt. Die Werke sowohl Pasolinis als auch die der letteratura pulp markieren dabei einen Moment in der Zeitgeschichte, in dem sich die Kunst in Protest gegen die Konsumgesellschaft wendet, sich aber gleichzeitig als Teil eben dieser erweist.
Schließlich sollen also die bereits erwähnten Romane Houellebecqs untersucht werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, welcher Schockstrategien sich Houellebecq auf individuelle Weise bedient. Gegenstand der Analyse soll dabei zunächst sein Roman Les Particules élémentaires sein, der zu seinen wohl wirkmächtigsten Werken zählt. Eine Untersuchung dieses Romans halte ich in diesem Zusammenhang für besonders lohnend, da Houellebecq hier thesenartig eine radikal negative Anthropologie ausformuliert, welche gemeinhin als die wohl skandalträchtigste Qualität seiner Romane verhandelt wird. In der Tat wird eine Analyse des Textes jedoch erweisen, dass die besondere Wirkmacht des Romans nicht allein auf die Brisanz des énoncé zurückzuführen ist, sondern dass sie gleichwohl Resultat spezifischer narrativer (Schock-)Strategien ist. Stetige Stil-, Perspektiv- und Diskurswechsel veruneindeutigen den Darstellungsgegenstand dergestalt, dass der Leser zu einer intensiven, engagierten und vor allen Dingen auch reflektierten Lektüre angeregt wird. Auf den ersten Blick wohl weniger enragiert, doch auf ähnliche Weise pessimistisch, präsentiert sich Houellebecqs Dystopie La Possibilité d’une île. Auch diese mutet zunächst wie eine deutlich formulierte Absage an die Menschheit an, doch erweist sich bei näherer Betrachtung auch diese als ambivalent: So zielt der Roman darauf ab, traditionelle Bezugshorizonte zu zersetzen, moralisch zu destabilisieren und dergestalt zum Gegenstand der kritischen Reflexion zu machen. Dass gerade diese Unbestimmtheit besonders provokativ wirkt, soll ferner ein Vergleich mit Cormac McCarthys dystopischem Roman The Road verdeutlichen.
Der 2010 erschienene Künstlerroman La Carte et le Territoire wiederum ist in Hinblick auf seine romanesken Vorgänger wohl weniger aggressiv und vermag aufgrund seiner vordergründigen Reflexion des Status des Künstlers und der Kunst zunächst minder ergiebig in Hinblick auf eine Untersuchung von Schockstrategien scheinen. Doch versäumt Houellebecq auch hier nicht, der Welt den gewohnt pessimistischen Spiegel vorzuhalten – und dies auf besonders zynisch-parodistische Art und Weise. Die Besonderheit des Romans ist wohl auch, dass Houellebecq sich selbst als Figur auftreten lässt, um sich schließlich auf grausame Art und Weise töten zu lassen. Der Mord an der Figur »Michel Houellebecqs« markiert dann auch den Wendepunkt, an dem die Geschichte in eine(n) Krimi(-Parodie) umschlägt und im Zuge dessen die Frage nach dem Ursprung des Bösen aufgeworfen wird. Mehr noch als in Les Particules élémentaires scheint hier eine Schreibweise des Bösen, wie sie bei Flaubert und Mirbeau ausgemacht werden kann, anzitiert zu werden; sie durchläuft dabei aber einen »postmodernen« Umgestaltungsprozess, der sie zersetzt, dekonstruiert, neukonfiguriert und dadurch gewissermaßen ihre Mechanismen offenlegt. Inwiefern die Romane Houellebecqs vor dem Hintergrund der Literatur der Moderne und Postmoderne einer Autonomieästhetik verpflichtet sind oder vielmehr am ethical turn partizipieren, soll im Rahmen dieser Untersuchung diskutiert werden.
Zweifelsohne ließe sich eine Vielzahl weiterer Texte einer solchen Untersuchung unterziehen, darunter Werke E.A. Poes, E.T.A. Hoffmanns, Huysmans, Oscar Wildes, Célines, André Bretons, Georges Batailles’, Bret Easton Ellis’, Will Selfs – um nur einige zu nennen. Notwendigerweise musste sich die hier vorgenommene Auswahl auf exemplarische Momente der (jüngeren) Literaturgeschichte beschränken. Doch die im Theorieteil entwickelte Methode der Textanalyse bietet ein Modell nicht nur zur Untersuchung der hier betrachteten Werke, sondern lässt sich gleichermaßen auf andere Texte anwenden.
Forschungsstand
Tatsächlich ist »Schockästhetik« in Zusammenhang mit Kunst ein geläufiger Begriff, besonders im Kontext von moderner Literatur (so z.B. Baudelaire)35 oder von Avantgarde-Poetiken (wie die des Surrealismus).36 Auch im Kontext der Gegenwartsliteratur findet der Begriff Erwähnung, so z.B. in Sarina Schnatwinkels Monographie zu den Romanen von Bret Easton Ellis (Das Nichts und der Schmerz. Erzählen bei Bret Easton Ellis, 2014).37 Doch eine so bezeichnete Systematik ästhetischer Schockerfahrung sowie eine umfassende Studie von literarischen Strategien, die eben solche auslösen, liegt in diesem Sinne noch nicht vor. Indem die vorliegende Arbeit also methodisch auf bestehende Diskurse über das (ästhetische) Böse, Wirkungsästhetik, literarische Ethik und Skandaltheorie zurückgreift, sucht sie, sich dem Begriff der Schockästhetik und einer Systematik von literarischen Strategien der Provokation sowohl theoretisch als auch praktisch zu nähern.
Zu Flauberts Roman Salammbô liegt bereits eine Reihe an Untersuchungen vor,38 allen voran natürlich die für den hier thematisierten Aspekt der Schockästhetik und des Phänomens des Bösen relevanten Studien von Karl Heinz Bohrer und Sabine Friedrich. Im Zusammenhang mit der Ästhetik des Bösen in selbigem Roman erschienen auch jüngst Beiträge von Jacques Neefs39 und Stefan Bub.40 Die vorliegende Studie wird im Wesentlichen den bestehenden Ansätzen folgen, wobei diese um Aspekte der Skandaltheorie sowie der narrativen Ethik ergänzt werden. Als Neuerung ist jedoch zu betrachten, dass das Werk im Kontext dieser Arbeit mit denen Mirbeaus, Noves, Pasolinis und Houellebecqs in Beziehung gesetzt wird, um Parallelen und Unterschiede aufzuzeigen, die in dieser Form noch nicht untersucht worden sind.
Im Jahre 1993 wurde die Zeitschrift Cahiers