Eine Hervorhebung dieser Art zeigt sich im Textabschnitt Joh 4,1–15 gleich innerhalb des ersten Wechselgesprächs, das sich aus Jesu Bitte, die zum Brunnen gekommene samaritische Frau möge ihm zu trinken geben, entwickelt (V. 9–10):23
Textgestalt 6: Joh 4,9–10 im Druckbild der Lutherbibel 1545
9Spricht nu das Samaritisch weib zu jm / Wie bittestu
Von mir trincken / so du ein Juͤde bist / vnd ich ein
Samaritisch weib? Denn die Juͤden haben keine ge-
meinschafft mit den Samaritern. 10Jhesus antwortet /
vnd sprach zu jr / WENN DU ERKENNETEST DIE GABE
GOTTES / VND WER DER IST / DER ZU DIR SAGET / GIB MIR
TRINCKEN / DU BETEST JN / VND ER GEBE DIR LEBENDI-
GES WASSER.
Die für Jesu Antwort gebrauchten Kapitälchen signalisieren, dass seine Worte von der »Gabe Gottes« und vom »lebendigen Wasser« auf ihn selbst verweisen und also christologisch zu deuten sind. Die Kapitälchen erweisen sich somit als »drucksemantische Zeichen«24, in denen sich sowohl die exegetische Reflexion Luthers und des Wittenberger Übersetzer- und Revisionskreises spiegelt als auch deren Intention, den Lesern schon auf visueller Ebene einen theologischen Text zu präsentieren.
Auch zu den bei der visuellen Textwahrnehmung gewonnenen Überlegungen der Studierenden, die Großbuchstaben könnten bestimmten funktionalen oder inhaltlichen Sinn besitzen, finden sich Hinweise in Rörers Nachwort zum Bibeldruck von 1545 sowie bei Luther selbst in seiner Vorrede zum Alten Testament von 1523. Wenn es bei Rörer heißt: »so offt eine newe Historien / Straffe oder Trostpredigt / Ermanung / Wunderzeichen etc. angehet/ Jst am anfang derselben ein grosser Buchstab gesetzt«25, so bestätigt sich die studentische Vermutung, das Großbuchstabenpaar, dessen erste Versalie in Fettdruck und größer als die zweite gesetzt ist, diene der Absatzgliederung. Was wiederum die studentische Erwägung betrifft, das Großbuchstabenpaar HE solle inhaltlich auf Jesus Christus hinweisen, so lässt sich auch diese stützen durch den Hinweis darauf, dass Luther ausdrücklich festhält, die Schreibweise »HErr« – und davon unterschieden die Schreibung »HERR« oder »HERRE« – sei theologisch begründet: »Es sol auch wissen / wer diese Bibel liesset / das ich mich geflissen habe / den namen Gottis den die Juden / tetragrammon heyssen / mit grossen buchstaben aus zu schreyben / nemlich also /HERRE / vnd den andern / den sie heyssen /Adonai / halb mit grossen buchstaben / nemlich also / HErr / denn vnter allen namen Gottis / werden dise zween alleyn / dem rechten waren Gott ynn der schrifft zu geeygent / die andern aber werden offt auch den engelen vnd heyligen zu geschryben. Das hab ich darumb than / das man da mit gar mechtiglich schliessen kan / das Christus warer Gott ist / weyl yhn Jeremia. 23. HERR nennet / da er spricht / sie werden yhn heyssen HERR vnser gerechter / also an mehr orten des gleichen zu finden ist.«26
Studierende werden mit Hilfe eines Lehr-/Lern-Gesprächs, in dem Luthers Ausführungen erklärt und auf die Sprachtradition der Hebräischen Bibel bezogen werden, feststellen können, dass der abschnitts- und kapiteleinleitende Temporalsatz in seiner frühneuhochdeutschen Fassung und Schreibweise (»Da nu der HErr innen ward« [neuhochdeutsch: »weil/als nun der Herr sich dessen bewusst war«]) intentional den von Luther für die hebräische Gottesbezeichnung אָדוֹן [Adon/Herr] bzw. אֲדֹנָי [Adonai/(mein) Herr] reservierten Gottesnamen birgt. Es wird sich ihnen in der Anfangsphase ihres Studiums die Frage stellen, wie eine hebräische Gottesbezeichnung aus dem Alten Testament Eingang in die Sprache des Neuen Testaments findet.27 In Erwartung dieser Frage werden wir als Lehrende die Septuaginta in ihrer griechischen Fassung28 und die Ausgabe Septuaginta Deutsch – in Buchform29 (samt Erläuterungsbänden30) und mit dem entsprechenden Hinweis auf die elektronische Version31 – bereithalten, um auf Belege zugreifen zu können, in denen das griechische Wort κύριος zum einen in alltagssprachlich-profaner, zum anderen in theologischer Verwendung hervortritt. Anschauliche Beispiele für die profane Bedeutung »Herr, Gebieter, Besitzer« könnten etwa im Rahmen der Erzählung von Abrahams Kauf einer Grabhöhle für Sara (Gen 23,1–20) die Belege Gen 23,11.15LXX sein (Anrede Abrahams als κύριε) oder im Rahmen der Rechtsordnungen Ex 21,1–23,19 das Syntagma ὁ κύριος τῆς οἰκίας (Ex 22,7LXX). Beispiele für die theologische Füllung des Wortes bieten permanent die Psalmen mit der wiederkehrenden Gottesanrede κύριε/Herr (vgl. nur Ps 3,2LXX; 5,2LXX; 6,2LXX; 9,2LXX; 12,2LXX; 14,2LXX; pass.). Stilistisch eindrücklich lässt sich die Verwendung der Kyrios-Anrede durch die Repetition in Ps 134,13LXX (κύριε, κύριε/Herr, Herr) und durch die Alliteration in Ps 8,2LXX belegen (κύριε ὁ κύριος ἡμῶν/Herr, unser Herr[scher]). Semantisch besonders überzeugend wird für Studierende der Hinweis auf Ps 7,2LXX und Ps 79,5LXX sein, wo sich »Herr« und »Gott« in einem Atemzug als Invokationen ergänzen können: κύριε ὁ θεός μου (Ps 7,2LXX: Herr, mein Gott)/κύριε ὁ θεὸς τῶν δυνάμεων (Ps 79,5LXX: Herr, Gott der Heerscharen). Das Lehr-/Lern-Gespräch wird in diesem Zusammenhang die Gelegenheit nutzen, die sprach- und kulturgeschichtliche Leistung der Septuaginta zu thematisieren32 und fachsprachliche Termini wie »Gottesnamen«, »Würdenamen«, »christologische Hoheitstitel« einzuführen und zu reflektieren.33
Möglicherweise werden wir als Lehrende aber zunächst mit einer ganz anderen Frage der Studierenden konfrontiert. Es könnte ihnen nämlich bei der Arbeit an Textgestalt 5 im Vergleich mit den bisher betrachteten Versionen von Joh 4,1 aufgefallen sein, dass anstelle des explizit benannten Subjekts »Jesus« (vgl. Textgestalt 1–4) im Druck der Lutherbibel von 1545 eben der Auszeichnungsname »HErr« steht. Wenn wir nicht davon ausgehen wollen, dass Luther hier eine andere Ausgabe des griechischen Textes vorlag – Nestle-Aland 28. Aufl. verzeichnet jene Zeugen, die in V. 1 κύριος lesen –, so werden wir mit den Studierenden entdecken können, dass Luther bewusst für »Jesus« den christologischen Titel »Herr« einsetzt und mit der dafür verwendeten Druckgestalt »HErr« zum Ausdruck bringen möchte, dass er Jesus als Gott versteht.
Um nun die berechtigte Vermutung der Studierenden, das Großbuchstabenpaar HE könne Jesus als den »Herrn Jesus Christus« zur Geltung bringen wollen, endgültig als relevant zu würdigen und im Blick auf die drucksemantische Dimension »Jesus ist Gott« hin zu vertiefen, lohnt sich der Blick auf das Wechselgespräch zwischen Jesus und der Samariterin in den V. 11–15, in denen gerade das alltagssprachliche »Herr« erscheint. Nach Jesu Wort vom lebendigen Wasser in V. 10 beginnt mit V. 11 eine neue Phase des Dialogs, die durch die irritierte Frage der samaritischen Frau eingeleitet wird, woher denn Jesus, zumal ohne Schöpfgefäß, »lebendiges Wasser« nehme – die Samariterin bezieht solches Wasser auf das sprudelnde Grundwasser, das der Brunnen als »›gefasste Quelle‹«34 und aufgrund seiner Tiefe bereit hält. In V. 15 weicht ihre Irritation einer dringenden Bitte: Wenn wirklich, wie Jesus ihr sagt, er ein anderes Wasser zu bieten habe als der Jakobsbrunnen – eines, das in dem, der trinkt, eine Quelle von Wasser erzeugt, das ins ewige Leben »springt«35 – , dann möge er ihr eben dieses Wasser geben!
Textgestalt 7: Joh 4,11.15 im Druckbild der Lutherbibel 1545
11Spricht zu jm das weib / Herr / hastu doch nichts / da
mit du schepffest / vnd