Für die Textanalyse hat sich die wichtige Unterscheidung der Untersuchungsebenen in Textoberflächenstruktur, Texttiefenstruktur und Textpragmatik bewährt. Die ersten beiden Begriffe stammen aus der strukturalistischen Literaturwissenschaft, in der die Oberflächenstruktur für die formale, »oberflächenhafte« Textur eines Textes unter Absehung von seinem Inhalt steht. Dieser Inhalt wird dann in einem zweiten Analyseschritt als Tiefenstruktur zu erfassen versucht.31 Die Textpragmatik versteht den Text demgegenüber als einen Kommunikationsakt, der bei den Rezipierenden etwas bewirken will.32 Diese Wirkung ist der Gegenstand der Untersuchung.
Für die Oberflächen- und Tiefenstruktur ist weiterhin die Unterscheidung in Lautebene, Wortebene, Satzebene und Textebene sinnvoll. Dabei wird die Fokussierung von einer größtmöglichen Detailwahrnehmung zu Beginn immer stärker geweitet, bis schließlich der gesamte Text in den Blick kommt.33
Im Einzelnen beschäftigt sich die Untersuchung der Textoberflächenstruktur u.a. mit folgenden Textphänomenen: Alliterationen, lautliche Anspielungen, Reime sind Gegenstand der Lautebene; auf der Wortebene interessieren v.a. die Wortarten und die Wurzelstatistik;34 die Satzebene betrachtet Syntax und Satzformationen; die Textebene umfasst Textstrukturierung, Personage und Verweisstruktur (Phorik). Bei der Untersuchung der Texttiefenstruktur wird das Augenmerk bei der Laut-/Wortebene dann auf die Aspekte der Wortfelder und Leitworte gelegt; für die Satzebene sind die Parallelismen von Belang; in der Textebene geht es v.a. um die inhaltliche Gliederung. Außerdem müssen auch die Textgrenzen eingehend untersucht werden.35
Die Textpragmatik wird anders unterteilt. Im Anschluss an Andreas Wagner wird versucht, die Wirkung auf die Rezipierenden durch unterschiedliche Sprechaktklassen zu beschreiben. Dabei wird differenziert in expressive Sprechakte (Darstellung von Haltungen, Werturteilen etc.), direktive Sprechakte (Aufforderung zu Handlungen; v.a. in Rechtstexten), kommissive Sprechakte (Selbstverpflichtung des Sprechers), deklarative Sprechakte (performative Rede im eigentlichen Sinn, in der durch Sprache Wirklichkeit geschaffen wird) sowie repräsentative Sprechakte (behauptende Darstellung von Sachverhalten als wahr bzw. falsch).36
Diese Unterteilungen mögen zunächst etwas künstlich wirken – so z.B. die prinzipielle Unterscheidung von Form und Inhalt, da diese in vielerlei Hinsicht interdependent sind.37 Man darf die Einteilungen jedoch gerade nicht als absolute Abgrenzungen missverstehen, sondern als eine pragmatische Schematisierung zugunsten der Handhabbarkeit, gewissermaßen als kontrollierte Lesehilfe. So verstanden ist die daraus resultierende systematisierte Wahrnehmung des Textes hilfreich, auch wenn in der Praxis die Methoden bisweilen durchaus überlappend oder mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen angewendet werden.38 Insgesamt aber ist die grundsätzliche Unterteilung für eine präzise und reflektierte Wahrnehmung textlicher Phänomene sinnvoll und dienlich.39
(b) Beispiel 2: Die Gattungskritik: Das zweite Beispiel ist die Gattungskritik, die sich bei Utzschneider/Nitsche, deutlich von der älteren Exegese absetzt. Lange Zeit diente die Formgeschichte, wie sie meist heißt, v.a. dazu, hinter die älteste schriftliche Fassung eines Textes zu fragen. In Fortführung der Studien von Hermann Gunkel wurde versucht, noch jenseits der redaktionsgeschichtlichen Schichtungen verlässliche Aussagen über das mündliche Textwachstum zu treffen.40 Die Forschung war dabei von einer sehr optimistischen Grundhaltung geprägt: Bereits die älteste schriftliche Fassung sei im Wortlaut zu rekonstruieren und im Anschluss daran seien im Rückgriff auf die mündlichen Gattungen sogar recht klare Aussagen über ältere Entwicklungsstufen möglich.
Utzschneider/Nitsche verfolgen hingegen ein anderes Ziel: Gattungen werden zwar nach wie vor als wiederkehrende Textbildungsmuster aufgefasst, welche sich anhand formaler wie inhaltlicher Gesichtspunkte bestimmen lassen. Gleichzeitig verändert sich die Stoßrichtung aber erheblich, da stärker mit literarischen Entwicklungen solcher Textbildungsmuster gerechnet wird. Gattungen gelten damit nicht alleine als Indizien für ursprünglich mündliche Kurztexte, die in der Textgeschichte als Vorstufen späterer schriftlicher Fassungen dienen.41 Vielmehr werden Gattungen sozusagen als Stilmittel verstanden, die ggf. literarisch eingesetzt werden, um bestimmte Effekte zu erzielen.42
Folgerichtig rechnen Utzschneider/Nitsche darum mit einem »Sitz im Leben ›Literatur‹«,43 der für viele atl. Texte anzunehmen sein dürfte: Der Sitz im Leben einer Gattung ist dann nicht notwendigerweise irgendein mündliches Setting aus der Frühzeit. Viel wahrscheinlicher ist die bewusste literarische Gestaltung von Texten anhand bekannter Muster innerhalb des »biblischen Literaturbetriebs«44.
Aufgrund dieses Verständnisses ist die Gattungskritik mit der Traditionskritik unter dem Titel »Welt des Textes« zusammengefasst und direkt nach der Textanalyse positioniert: Die Gattungskritik will den literarischen Verstehenskontext des Textes erhellen, indem sie die hermeneutischen Muster der Textbildung offenlegt. Insofern ist auch bei Utzschneider/Nitsche die Gattungskritik historisch ausgerichtet, aber es soll nicht mehr primär die mündliche Entstehungsgeschichte im Fokus stehen.45 Dies schlägt sich auch in der veränderten Nomenklatur nieder, wenn von analytischer Gattungskritik die Rede ist statt von primär diachroner Formgeschichte.46
Infolge dieser veränderten Hermeneutik wird im Arbeitsbuch versucht, solche Textbildungsmuster vor allem unter literarischen Gesichtspunkten zu beleuchten. Ein Proprium bei Utzschneider/Nitsche liegt daher in den drei anschließenden Kapiteln, in denen sich ein umfassendes Instrumentarium zur literaturwissenschaftlichen Erschließung von Gattungen für narrative und poetische Texte sowie für Texte aus dem corpus propheticum findet.47
Die methodischen Stärken einer literaturwissenschaftlichen Exegese
Im Folgenden möchte ich zeigen, welchen methodischen Mehrwert ein literaturwissenschaftlicher Zugang zu biblischen Texten bietet. Außerdem wird sich zeigen, wie sehr die »klassische« Exegese bereits durch literaturwissenschaftliche Zugänge geprägt ist.
Einwände gegen eine literaturwissenschaftlich orientierte Exegese: Literaturwissenschaftliche Hermeneutiken sind nicht unumstritten. Diachrone und synchrone Exegeseansätze werden oft als konkurrierend betrachtet, was aber nicht zutreffen muss.1 Dass beide Auslegungsweisen sich durchaus ergänzen können, zeigt bspw. die neue Kommentarreihe IEKAT.2
Dennoch liest man immer wieder von Vorbehalten gegenüber literaturwissenschaftlich bzw. synchron ausgerichteten Interpretationen. So wird moniert, dass die Untersuchung der historischen Tiefendimension auf der Strecke bleibe.3 Dass eine solche zumindest bei Utzschneider/Nitsche jedoch erfolgt, wird gerne übersehen. Ein anderer Einwand behauptet, diachrone Interpretationen seien per se objektiver als synchrone,4 weil deren Ergebnisse in größerem Maße intersubjektiv überprüfbar seien. Die Einsichten einer synchronen Exegese seien demgegenüber viel stärker dem subjektiven Eindruck unterworfen. Dagegen ist einzuwenden, dass eine literaturwissenschaftliche Exegese einerseits ja gerade durch ihre methodische Strukturiertheit ganz besonders auf Intersubjektivität hin ausgelegt ist.5 Andererseits zeigt v.a. die Vielfalt der Ergebnisse im Rahmen diachroner Deutungsansätze, wie stark jene von subjektiven Einschätzungen abhängig sind.
Insgesamt erscheint ein Verharren im (vermeintlichen) Antagonismus zwischen Synchronie und Diachronie wenig hilfreich. Besser wäre es, die jeweiligen Stärken in ihren jeweiligen Domänen fruchtbringend einzusetzen.6
Ein Vergleich von »klassischer« und literaturwissenschaftlicher Exegese: Um die Stärken des literaturwissenschaftlichen Ansatzes herauszuarbeiten, möchte ich einen Vergleich mit der »klassischen« Herangehensweise unternehmen. Dafür greife ich auf Uwe Beckers Buch »Exegese des Alten Testaments« zurück,7 das vermutlich zu den Werken mit der derzeit größten Verbreitung gehört.8
(a) Die Abfolge der Arbeitsschritte: Sehr aufschlussreich ist eine Betrachtung der Abfolge der Methoden, da sich schon hier die unterschiedlichen Hermeneutiken zeigen.9 Im Bereich der ersten Arbeitsschritte stimmen die beiden Werke natürlich überein: Nach einer Arbeitsübersetzung folgt die Textkritik. Danach gehen die Autoren jedoch unterschiedliche Wege. Bei Utzschneider/Nitsche ist hier die ausführliche Textanalyse angesiedelt, während sich bei Becker direkt die Literarkritik, die Überlieferungsgeschichte und die Redaktionsgeschichte anschließen. Dieser Dreierblock