Bestätigt sähen sich die Überlegungen der Studierenden zum Zusammenhang der Wegnotizen durch die modernen Druck- und Online-Versionen der Lutherbibel, die in Textgestalt 3 und Textgestalt 4 festgehalten sind:
Textgestalt 3: Joh 4,1–6 im sinnabschnittsgliedernden Fließtext der Lutherbibel 1984 online3
4 1 Als nun Jesus erfuhr, dass den Pharisäern zu Ohren gekommen war,
dass er mehr zu Jüngern machte und taufte als Johannes 2 – obwohl Jesus
nicht selber taufte, sondern seine Jünger –, 3 verließ er Judäa und ging
wieder nach Galiläa. 4 Er musste aber durch Samarien reisen.
5 Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld,
das Jakob seinem Sohn Josef gab. 6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde.
Textgestalt 4: Joh 4,1–6 im versgebundenen Spaltentext der Lutherbibel 1984/Standardausgabe4
4 Als nun Jesus erfuhr, daß den Phari-
säern zu Ohren gekommen war, daß er
mehr zu Jüngern machte und taufte als
Johannes
2 – obwohl Jesus nicht selber taufte, son-
dern seine Jünger –,
3 verließ er Judäa und ging wieder nach
Galiläa.
4 Er mußte aber durch Samarien reisen.
5 ¶ Da kam er in eine Stadt Samariens, die
heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Ja-
kob seinem Sohn Josef gab.
6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil
nun Jesus müde war von der Reise, setzte
er sich am Brunnen nieder; es war um die
sechste Stunde.
Studierende werden in Einzel- und Partnerarbeit darauf stoßen können, dass die beiden Versionen der Lutherbibel typographisch unterschiedlich organisiert sind.5 Die Lutherbibel 1984 online gestaltet einen versübergreifenden Fließtext, der Sinnabschnitte durch Zeilenumbruch voneinander trennt, während die Lutherbibel 1984 in Buchform (Standardausgabe) einen versgebundenen Spaltentext bietet, in dem bereits jeder einzelne Vers einen eigenen Absatz bildet.6 Sinnabschnitte müssen in dieser Ausgabe daher zusätzlich durch das Druckzeichen Alinea (¶) kenntlich gemacht werden, das im ausgewählten Text Joh 4,1–6 für V. 5 Verwendung findet. Textgestalt 3 und Textgestalt 4 demonstrieren also auf je eigene Weise mit ihrem Druckbild, dass sie die itinerarischen Angaben der V. 3–4 zusammenbinden und somit die V. 1–4 als ersten Sinnabschnitt der Erzählung von Jesus und der Samariterin auffassen. Dies wahrnehmen und beschreiben zu können, wäre eine erste Kompetenzstufe, zu der der Schritt »visuelle Textwahrnehmung« Studierende bei der Vorbereitung auf die Verssegmentierung zu führen vermag.7
Zweiter Schritt: Einblick gewinnen in die drucksemantische Qualität eines Textes
Dass Druckformate Sinn- und Bedeutungsträger sind, lässt sich besonders gut im Umgang mit dem letzten von Luther autorisierten und noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Bibeldruck (Wittenberg 1545) vergegenwärtigen und didaktisch vermitteln. Die Arbeit mit diesem Bibeldruck empfehle ich Lehrenden aus Gründen seiner Erschließungskraft im Blick auf die Vers- und Satzgliederung des Bibeltextes ausdrücklich. Er ist leicht zugänglich in einer Studienausgabe (Reclams Universalbibliothek)1, die »buchstaben- und zeichengetreu die Textgestalt des Originals«2 bewahrt. Der Text Joh 4,1–6 zeigt in dieser Druckfassung – in der Sprachgestalt des Frühneuhochdeutschen3 – folgendes Erscheinungsbild:
Textgestalt 5: Joh 4,1–6 im Druckbild der Lutherbibel 15454
DA nu der HErr innen ward / das fur die Phariseer
komen war / wie Jhesus mehr Juͤnger machet /vnd
teuffet / denn Johannes 2(wiewohl Jhesus selber nicht
teuffet / sondern seine Juͤnger) 3verlies er das land
Judea / vnd zoch wider in Galileam / 4Er muste aber
durch Samariam reisen.
DA kam er in eine stad Samarie / die heisset Sichar /
nahe bey dem Doͤrfflin / das Jacob seinem son Jo-
seph gab / 6Es war aber daselbs Jacobs brun. Da nu
Jhesus muͤde war von der Reise / satzte er sich also auff
den brun / Vnd es war vmb die sechste stunde.5
Die optischen Besonderheiten von Textgestalt 5 werden Studierende im Vergleich mit den bisher betrachteten Textgestalten klar hervorheben können: die ungewohnte Schreibweise der Wörter (wie etwa die Schreibung des Jesusnamens, die uneinheitliche Schreibung des Vokalklangs »u« als »v« oder »u«, der hochgestellte Umlaut-Vokal und das fett gesetzte D in »Doͤrfflin«); die satzgliedernden Schrägstriche (Fachausdruck: »Virgel«6), die sich vielen bei genauerem Hinsehen als mit Punkt und Komma vergleichbare Satzzeichen erschließen werden;7 vor allem aber die beiden Großbuchstaben zu Beginn eines Absatzes sowie die beiden Großbuchstaben im Gottesnamen »HErr«.
Manche werden von selbst die Frage nach Funktion und Charakter dieser Großbuchstaben (Fachausdruck: »Versalien«8, »Majuskeln«9) stellen – eine Frage, die es lohnt, in kurzem Partneraustausch ventiliert zu werden, bevor sie im Plenum erörtert wird. Einige mögen die Versalien vage als »typisch altmodisch« bewerten. Andere, die etwa im Geschichts- oder Germanistikstudium schon mit alten Handschriften und Drucken zu tun hatten, könnten sich an visuelle Eindrücke von Initialen erinnert fühlen und die hervorstechenden Großbuchstaben als Verschönerung des Druckbildes, als Schmuck verstehen (Fachausdruck: »typographisch-ornativ«10). Einzelne werden in dieser Diskussion aber möglicherweise auch vorschlagen, die Großbuchstaben funktional und inhaltlich noch genauer mit Sinn zu füllen. Hintergrund ihres Vorschlags könnte nämlich die Verwunderung darüber sein, dass die Verwendung der Doppel-Großbuchstaben offensichtlich nicht einlinig zu begründen ist. Das Großbuchstabenpaar DA, dessen erster Großbuchstabe größer und in Fettdruck erscheint, scheint funktionalen Sinn zu haben: Es zeigt einen neuen Absatz an (Fachausdruck: »Abschnitt-Initiale«11). Das Großbuchstabenpaar HE hingegen könnte inhaltlich motiviert sein: Es könnte darauf hinweisen wollen, dass es sich bei Jesus nicht um einen menschlich-alltäglichen »Herrn«, sondern eben um den »Herrn Jesus Christus« handelt.
Mit solchen wichtigen, aus der visuellen Textwahrnehmung erwachsenen Vermutungen wären die Studierenden