Ganz offensichtlich ist damit Beckers Ansatz v.a. an der diachronen Dimension der Texte interessiert. Die Abfolge der Arbeitsschritte suggeriert ein Zurückschreiten von den jüngsten und damit am leichtesten zugänglichen Daten immer weiter hin zu den ältesten noch greifbaren Vorformen des Textes. Ganz folgerichtig wird darum auch die abschließende Gesamtexegese diachron tituliert: »Historische Aussageabsicht«.
Utzschneider/Nitsche verstehen dagegen Texte stärker als literarische Entitäten. Entsprechend soll in der Textanalyse der Text zunächst so erschlossen werden, wie er uns vorliegt. Gattungs- und Traditionskritik beleuchten im Anschluss daran die literarischen Deutungshorizonte der Texte (»die Welt des Textes«). Erst dann folgt die Untersuchung der Literargeschichte, die an dieser Position allerdings auf die Ergebnisse der vorherigen Arbeitsschritte zurückgreifen kann. Bereits hier zeigen sich die grundlegenden Unterschiede, die im Vergleich einzelner Arbeitsschritte noch plastischer werden.
(b) Textanalyse vs. Literarkritik: Halten wir im ersten konkreten Beispiel Beckers Literarkritik neben die Textanalyse bei Utzschneider/Nitsche, wird sehr schnell deutlich, wie stark auch Beckers Methodik von literaturwissenschaftlichen Grundsätzen durchdrungen ist.10 Bis ins Detail ähneln die Analysemethoden stark jenen des »Arbeitsbuches«.11 So werden u.a. folgende Untersuchungen vorgeschlagen: die sprachlich-syntaktische Analyse (vgl. Satzebene der Textoberflächenstruktur); die semantische Analyse (vgl. Wortebene der Texttiefenstruktur); die narrative Analyse (vgl. Textebene der Texttiefenstruktur); sowie die pragmatische Analyse (identisch mit der Textpragmatik bei Utzschneider/ Nitsche).12 Gleichzeitig fällt auf, dass einige Analyseschritte des Arbeitsbuches bei Becker zunächst offensichtlich fehlen. Diese werden z.T. im Rahmen der Formgeschichte als »sprachliche, stilistische und rhetorische Analyse« nachgeholt.13
Die Grundhermeneutik präsentiert sich bei Becker als eine dezidiert diachrone, die der synchronen Betrachtung eines Textes kaum Eigenwert zugesteht, wie Becker herausstellt: »So führt die synchrone Lektüre beinahe von selbst zu einer Lektüre unter diachroner Perspektive.«14 Außerdem tritt bei Becker ein Phänomen auf, das öfters bei literarkritischen Operationen zu beobachten ist: Insgesamt wird bei der Ausgrenzung von Wachstumsschichten stärker auf inhaltliche Argumente als auf formale zurückgegriffen.15 Methodisch betont Becker zwar, dass beide Aspekte ineinander greifen müssen,16 räumt aber inhaltlichen Fragestellungen deutlich breiteren Raum als formalen Indizien ein.17
Der Vergleich zwischen Becker und Utzschneider/Nitsche zeigt eine Reihe von Parallelen, insgesamt erweisen sich jedoch wesentliche Unterschiede in der Herangehensweise. Dabei ist nicht jede methodische Entscheidung Beckers nachvollziehbar. Es wirkt bisweilen so, als rührten die Differenzen von einem grundlegendem Unbehagen Beckers gegenüber der literaturwissenschaftlichen Fragestellung her. Dies ist insofern bedauerlich, als die Methodik Beckers durch die starke Fokussierung auf die Diachronie von Beginn an Gefahr läuft, sich für wichtige Texterkenntnisse zu verschließen. Mit der »literarkritischen Schere« im Kopf verbaut man sich möglicherweise die Möglichkeit von Beobachtungen am Text, die bspw. für die Kohärenz einer Passage sprechen können.18 Eine synchron orientierte Herangehensweise in Form einer Textanalyse dürfte eine größere Offenheit für Textphänomene mit sich bringen, als dies bei einer anfänglichen Literarkritik der Fall sein dürfte.
(c) Gattungskritik vs. Formgeschichte: Mit Blick auf die Gattungskritik bzw. die Formgeschichte zeigen sich zunächst deutlich weniger Unterschiede. So ist Becker explizit bestrebt, sich von der »traditionellen Sicht« abzugrenzen19 und spricht sich dezidiert dafür aus, »zunehmend den literarischen Charakter der alttestamentlichen Texte«20 wahrzunehmen. Becker führt hierfür die Wendung »Sitz im Buch« für literarische Sitze im Leben ein 21 – ähnlich wie Utzschneider/ Nitsche mit ihrem »Sitz im Leben ›Literatur‹«. Folgelogisch ist Becker daran interessiert zu eruieren, welche Intentionen hinter den literarischen Gestaltungen stehen.22 Hierfür rekurriert er stark auf wegweisende Forschungsergebnisse der Linguistik und Literaturwissenschaft.23
Bei all diesen Übereinstimmungen fallen die Differenzen aber umso stärker ins Gewicht. Dies beginnt bei der bereits beschriebenen Abfolge der Methodenschritte. Becker folgt hier nach wie vor der traditionellen Sicht. Diese suggeriert jedoch gerade, dass der Text auf Prägungen aus der mündlichen Entwicklungsphase hin zu befragen ist. Da Becker dies zurückweist, wundert man sich, warum er an der traditionellen Reihenfolge festhält. Die einzige Antwort, die er selbst hierzu bietet, ist, dass vorlaufend in der Literarkritik die Eigenständigkeit des Textes erhoben werden müsste.24 Da dies jedoch auch in einer Textanalyse geschieht, ist das Argument nicht zwingend.
Außerdem bleibt in der vorgelegten Abfolge unklar, ob die Formgeschichte bei Becker am literarkritisch bereinigten Text oder an der vollständigen Fassung des Endtextes durchgeführt werden soll. Träfe ersteres zu, hätte Becker sich genau genommen doch nicht von der Hermeneutik der älteren Exegese verabschiedet.25 Darüber hinaus begäbe er sich damit in einen gewissen Widerspruch zu sich selbst, da er vorher formuliert, dass es in der Methode »generell um die Erhebung der sprachlichen Eigenart eines Textes«26 geht und damit doch wohl um die eines vollständigen Textes. Eine umgekehrte Reihenfolge erscheint daher deutlich sinnvoller. Erkenntnisse aus der literarisch orientierten Gattungskritik können so nämlich in die literarkritischen Überlegungen einfließen und diese zusätzlich argumentativ absichern.
Eine Zusammenfassung des Vergleichs: Der Vergleich zwischen Utzschneider/Nitsche und Becker ergab zunächst, dass sich viele Spuren einer literaturwissenschaftlichen Hermeneutik auch im eher traditionell orientierten Werk Beckers finden. Dies ist insofern begrüßenswert, als sich durch eine literaturwissenschaftliche Analyse die vielfältigen und -schichtigen Tiefendimensionen der Texte eröffnen. Um dies zu erreichen, ist literaturwissenschaftlichen Methoden jedoch ein Eigenwert zuzubilligen, was zur zusammenfassenden Kritik an Becker führt:
Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass die literaturwissenschaftlichen Ansätze von Becker nicht konsequent verfolgt werden. Wenn z.B. die Gattungskritik in ihrer literarischen Ausrichtung ernst genommen werden will, muss sie in der Reihenfolge der Methodenschritte einen anderen Ort bekommen. Aber auch die Literarkritik ist bei Becker in zweifacher Hinsicht zu einseitig angelegt: einmal in der Auswahl der an den Text anzulegenden Fragestellungen, dann aber v.a. mit Blick auf die literarkritische Orientierung, die von vornherein bestimmte Ergebnisse festlegt.
Trotz aller Kritik sind aber auch Stärken von Beckers Lehrwerk gegenüber dem von Utzschneider/Nitsche zu benennen: Ein Vorteil besteht bspw. schlicht im Textumfang, was gerade für ein Lehrbuch von großer Bedeutung ist. Utzschneider/Nitsche räumen texttheoretischen Einführungen breiten Raum ein, welche das Buch meiner Lehrerfahrung nach schwer zu rezipieren machen.27 Die ungewohnte literaturwissenschaftliche Terminologie stellt auch und v.a. für Lehrende oft ein Hindernis dar. Durch die pointierte Darstellung werden bei Becker schließlich manche Zusammenhänge und Trennlinien zwischen einzelnen Arbeitsschritten deutlicher herausgestellt (v.a. im Bereich Literargeschichte).28
Dennoch scheinen mir die konzeptionellen Vorteile bei Utzschneider/Nitsche zu liegen. Bei Becker wird der Text letztlich stark als Mittel zum Zweck verstanden, eine mögliche Historie zu rekonstruieren. Hier hielte ich für die erste Annäherung an einen Text eine gewisse »Umkehrung der Beweislast« sinnvoll: nicht sofort von seiner Inkohärenz auszugehen, sondern textliche Kohärenzsignale in den Blick zu nehmen, um zu verstehen, wie dieser Text »funktioniert« – auch und gerade mit seinen Brüchen. Ohne textgenetische Schichtungen abstreiten zu wollen, würde ich viel mehr damit rechnen, dass der Text in seiner (z.T. sicherlich recht sperrigen) Endgestalt etwas zu sagen hat.29 Oder historisch ausgedrückt: Es geht darum zu verstehen, warum die Tradenten uns den Text in der vorliegenden Form präsentieren.
Der didaktische Mehrwert
Das vorgeschlagene konzeptionelle Weiterdenken zugunsten einer literaturwissenschaftlichen Exegese scheint abschließend auch unter didaktischen Gesichtspunkten ratsam. Meine eigene Lehrerfahrung zeigt – und dieser Eindruck wurde mir