Bei seiner Beurteilung der Unechtheit des Philipperbriefes im Jahre 1845 leiten BaurBaur, Ferdinand Christian im Wesentlichen drei Beobachtungen:Baur, Ferdinand Christian18 Der Philipperbrief bewege sich, wie Phil 2,5ff. zeigten, „im Kreise gnostischer Ideen und Ausdrücke“ (458);Baur, Ferdinand Christian19 der Brief sei von einer vorherrschenden „Subjectivität des GefühlsGefühl(e)“ geprägt (464), gekennzeichnet durch „Gedankenarmuth“ und Mangel an einem bestimmten „Zweck und Grundgedanken“ (1843: 464; 18672: 59); die historische Situationsbeschreibung des Paulus in Phil 1,12 etc. „steht ganz für sich“ (469).Baur, Ferdinand ChristianZeller, Eduard20 Hiermit ist die eigentliche Kontrastfolie beschrieben, vor der Meyers vielfältige PolemikPolemik in seinem Kommentar verständlich wird. Wie de WetteWette, Wilhelm M. L. de nimmt auch Meyer zum einen bereits in seiner 6-seitigen „Vorrede“ auf Baur kritisch Bezug, wenn er schreibt:
„Die neueste Kritik, welche unsern Brief den apostolischen Händen zu entwinden versucht hat, habe ich zwar kurz, aber, wie ich glaube, doch hinreichend für den gar zu prekären Versuch, auch unter Berücksichtigung der wackern LünemannLünemann, Gottlieb’schen Gegenschrift, besprochen“ (X).
Zum anderen setzt sich Meyer in § 3 seiner „Einleitung“ (1-6) mit BaursBaur, Ferdinand Christian Echtheitskritik explizit auseinander (4ff.: s.u.). Die Diskussion über die Echtheit des Philipperbriefes nimmt Meyer sogar zum Anlass für grundsätzliche theologische und hermeneutische Erwägungen. Er beschreibt, wie er die exegetische Kritik in seiner Zeit sich überschlagen sieht, und kritisiert scharf die, wie er sagt, „Gelüste, […] den Philipperbrief […] zu einer untergeschobenen raffinirten Tendenzschrift zu stempeln“ (X).Wette, Wilhelm M. L. de21 Demgegenüber versteht Meyer den Philipperbrief als „Liebesbrief unter den Paulinischen Schreiben“ (Xf.). Nur „schwerlich anderswo [hört man] den inneren Herzschlag Pauli“ (XI). Meyer lässt auf seine einleitende Kritik an der Paulusexegese seiner Zeit zugleich Überlegungen folgen, die die exegetische Forschung programmatisch auf ihre theologische wie kirchliche Verantwortung hinweisen und verpflichten. Philologisch-exegetische Forschung und kirchliche Lehre gehören für den Begründer des KEK – wie diesen emphatischen Worten zu entnehmen istWette, Wilhelm M. L. de22 – untrennbar zusammen (vgl. auch XIV):
„Die Freiheit der Kritik muss innerhalb der protestantischen Kirche ihr volles Recht behalten, aber sie soll auch ihre Gränzen erkennen, an welchen sie zur Verirrung wird, die an Verhärtung gränzt, wenn ihr Schwerdt die Scheide nicht finden kann“ (XI).
1.2. Die Anlage und Bedeutung des Meyer-Kommentars 1847
Der Meyer-Kommentar zum Philipperbrief umfasst in seiner ersten Auflage neben der schon genannten „Vorrede“ (IX-XIV) eine „Einleitung“ (1-6), die kurz und prägnant, in drei Abschnitte unterteilt, im Sinne der damaligen Einleitungswissenschaft wesentliche Einleitungsfragen abhandelt:Wette, Wilhelm M. L. de1 die Frage nach der Gemeinde der Philipper (§ 1: 1f.), „Ort, Zeit, Veranlassung und Inhalt“ des Philipperbriefes (§ 2: 2-4) sowie dessen „Aechtheit und Einheit“ (§ 3: 4-6). § 1 ist noch erkennbar zeitlich vor dem eigentlichen Aufkommen der archäologischen und epigraphischen Forschung in Nordgriechenland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden.Bormann, LukasPhilippi2 Gleichwohl hatte schon Esprit Marie CousinéryCousinéry, Esprit Marie (1744-1833) im Jahre 1831 die Topographie und Archäologie Philippis ausführlich dokumentiert und beschrieben.Cousinéry, Esprit MarieBormann, LukasPhilippiPilhofer, Peter3 Meyer verweist zwar 1847 auf diese Darstellung (1 Anm. **; 18744: ebd. noch ausführlicher), greift allerdings bei seiner Rekonstruktion der Gemeindegeschichte hauptsächlich auf die Apostelgeschichte und den Philipperbrief als historische Quellen zurück. Denn das leitende Paradigma exegetischer Arbeit liegt seinerzeit – anders als heute4 – in philologisch und theologisch geleiteter Textauslegung.
Weitaus aktueller bleibt Meyers Diskussion der Abfassungsverhältnisse des Briefes in § 2: Unter Verweis auf die altkirchlichen Überlieferungen (z.B. Chrysostomus), die Situationsbeschreibung des Paulus (Phil 1,12ff.) und die briefliche Semantik, die in die Nähe des Kaiserhauses deutet (Phil 4,22), lokalisiert Meyer den Philipperbrief in RomRom und weist Hypothesen einer möglichen Abfassung des Briefes in CaesareaCaesarea oder KorinthKorinth/Corinth, wie sie seit 1799 bzw. 1731 diskutiert wurden,CaesareaPaulus, Heinrich E. G.Korinth/Corinth5 zurück. Eine Abfassung des Briefes in EphesusEphesus stand in der Forschung bis dahin noch nicht zur Diskussion.EphesusMichaelis, WilhelmBormann, LukasLisco, HeinrichDeissmann, AdolfHaupt, ErichGefangenschaftsbrief(e)6 Meyer datiert die Abfassung des Philipperbriefes in das Jahr 63 oder Anfang 64 (3).Wette, Wilhelm M. L. deGefangener, Gefangenschaft7 Der Brief sei vor allem Ausdruck der Liebe des Apostels nach empfangener „Geldunterstützung“ durch die Philipper – „ein Muster der Vereinigung von zarter Liebe und theilweise fast elegischem Gepräge mit hoher apostolischer Würde und Freimüthigkeit“ (3). Im Lichte der oben beschriebenen BaurBaur, Ferdinand Christian’schen Echtheitskritik wird die genaue Bestimmung der konkreten brieflichen Funktion grundlegend – eine Fragestellung, die die Philipperbrief-Forschung übrigens bis in die Gegenwart bestimmt. Meyer findet im Philipperbrief darüber hinaus besonders einen herzlichen Stil des Apostels, das Fehlen von „Disposition“, „doctrinelle[n] Durchführungen“, alttestamentlichen „Citationen und dialektische[n] Argumentationen“ (3) und sieht genau hierin wiederum wichtige „innerliche“ Merkmale der Authentizität des Schreibens (4).Wette, Wilhelm M. L. de8 Ähnliche Beschreibungen der epistolaren Eigenheiten des Philipperbriefes haben noch in der gegenwärtigen Forschung Bestand,Bormann, Lukas9 ohne dass allerdings Meyers Kommentar dabei eigens Erwähnung fände.
In seiner direkten Auseinandersetzung mit BaurBaur, Ferdinand Christian und SchweglerSchwegler, Albert (1819-1857)Meyer, Heinrich A. W.Schwegler, AlbertBaur, Ferdinand Christian10 über die Echtheit des Philipperbriefes führt Meyer nun in § 3 einerseits altkirchliche Zeugnisse zur frühen Bekanntheit und Verbreitung des Philipperbriefes als „äußerliche“ Indizien seiner Echtheit an (z.B. PolykarpPolykarp, Phil 3,1; Tertullian, adv Marc 5,19Tertullianadv Marc5,19).Wette, Wilhelm M. L. deTertulliande resurrect23Irenaeusadv haer4,18,4Baur, Ferdinand Christian11 Andererseits weist er Baurs Gründe für den Zweifel an der Authentizität des Briefes hier in der Einleitung wie auch in der nachfolgenden Kommentierung im Einzelnen und auf der Basis konkreter Textexegese zu Phil 2,5ff.,12 aber auch Phil 1,1.12; 2,11; 3,1; 4,2 f.22 entschieden zurück und konstatiert: „Die einzelnen Argumente Baur’s erledigen sich durch unbefangene Exegese der bezüglichen Stellen“ (5).
Zuletzt diskutiert Meyer den Vorschlag J. H. Heinrichs’Heinrich, J. H. und Heinrich E. G. PaulusPaulus, Heinrich E. G.’ (1761-1851),Heinrich, J. H.Paulus, Heinrich E. G.13 den Philipperbrief ursprünglich in einen „exoterischen“ (Phil 1,1-3,1 und 4,21-23) und einen „esoterischen“ (Phil 3,1-4,20) Briefabschnitt zu unterteilenWette, Wilhelm M. L. de14 und so mit verschiedenen Adressatengruppen – entweder der ganzen Gemeinde oder einer vertrauteren Gruppe