Der hermeneutische Schlüssel zum Verstehen des Philipperbriefes liegt für LohmeyerLohmeyer, Ernst also zum einen in der Selbstdeutung des Paulus als MärtyrerMartyrium, Märtyrer, martyrologisch. Er liegt zum anderen in der Analyse von Phil 2,6ff., dem „ChristusliedChristuslied“ (8), das für Lohmeyer zu einem „Grundtext christlicher Philosophie“ wird.9 Dieser doppelte hermeneutische Schlüssel dient dem bisher letzten Kommentator des Philipperbriefes im KEK nicht zufällig dazu, BaursBaur, Ferdinand Christian immer noch nachwirkende Echtheitskritik aufzunehmen, aber entscheidend umzudeuten:Baur, Ferdinand ChristianLohmeyer, Ernst10 Wie Baur will auch Lohmeyer Phil 2,6ff. „in der Tat nicht auf Paulus zurückführen“ (8). Gleichwohl hält er – anders als Baur – das Christuslied für einen „vorpaulinischen, judenchristlichen Psalm“ (8). Auch Baurs Kritik an der Gedankenführung des Philipperbriefes greift Lohmeyer produktiv auf: Die „‚Vagheit‘ der brieflichen Haltung […] hat ihre konkreten Gründe. Denn Märtyrer sein heißt nichts anderes als die letzte religiöse Wirklichkeit in ihrer göttlichen von keiner Zeit und Geschichte beschwerten Allgemeinheit in Zeit und Geschichte erleben“ (8).
Fiel Meyers Kommentierung des Philipperbriefes in eine im mehrfachen Wortsinne „kritische Phase“ der Paulusexegese und geschah sie im Wesentlichen als eine Widerlegung der BaurBaur, Ferdinand Christian’schen Argumente, so schließt sich bei LohmeyersLohmeyer, Ernst produktiver Auseinandersetzung mit Baur der Kreis. Lohmeyer muss Baur nicht länger widerlegen, er deutet Baurs „genialen Blick“ (7) um. Dass Lohmeyer mit seiner martyrologischenMartyrium, Märtyrer, martyrologisch Deutung des Philipperbriefes, die seinen Kommentar von den zeitgenössischen, bis heute ebenso einflussreichen Kommentierungen des Briefes durch Martin DibeliusDibelius, Martin (1911; 19373),Dibelius, Martin11 Karl BarthBarth, Karl (1928)Barth, KarlLohmeyer, Ernst12 oder Wilhelm MichaelisMichaelis, Wilhelm (1935)Michaelis, Wilhelm13 deutlich unterscheidet, in erschreckender Weise sein eigenes Schicksal als Theologe unter den Bedingungen von Nationalsozialismus einerseits und sowjetischer Besatzung andererseits vorausbeschrieb, konnte er sicher nicht ahnen. Lohmeyers Kommentierung des Philipperbriefes wird in einer dramatischen „real life experience“ verifiziert.Betz, Hans DieterDemut14 Retrospektiv zeigt sich so, wie Leben und Werk eines Exegeten letztlich kaum zu trennen sind. Der Kommentator und sein Kommentar prägen und beeinflussen einander gegenseitig, auch wenn diese Wechselwirkung oft erst im geschichtlichen Abstand deutlich werden kann.
4. Die Auslegung von Phil 2,5/6ff. im Vergleich
Ein abschließender Blick soll der Auslegungsgeschichte von Phil 2,5/6ff. im KEK gelten – einem Text, der, wie wir schon sahen, seit dem 19. Jahrhundert nicht nur im Streit über die mögliche Unechtheit, weil: gnostische Prägung (BaurBaur, Ferdinand Christian)Meyer, Heinrich A. W.1 des Philipperbriefes eine große Rolle spielte, sondern der auch zu den theologischen Kerntexten innerhalb des Briefes, wenn nicht des gesamten Corpus Paulinum zählt. Zudem gehört dieser Abschnitt, wie in der Exegese immer wieder konstatiert wurde und wird, „zu den schwierigsten Abschnitten der paulinischen Briefe“Lohmeyer, Ernst2. Folgende Aspekte waren (und sind) bei der vergleichenden Betrachtung der KEK-Kommentare von besonderer Bedeutung für das Textverstehen: (a) die formale und funktionale Bestimmung von Phil 2,5/6-11, (b) die Verknüpfung mit dem Kontext, (c) die Interpretation des Begriffs ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω in V. 6 und (d) die Deutung der KenosisKenosis Christi in V. 7.
Meyer widmet sich in seinem Kommentar 1847 der Auslegung von Phil 2,5-11 auf den Seiten 47-63.Wette, Wilhelm M. L. deMatthies, Conrad S.3 (a) Der Textabschnitt wird unter Verweis auf 2,3f. als eine Beispielerzählung zur Ermahnung, nicht die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen, verstanden (47). (b) Der Abschnitt ist im Zusammenhang von 2,1ff. bzw. 1,27ff. zu sehen (43). (c) Nach Meyer bedeutet der ἁρπαγμόςἁρπαγμός, ἁρπάζω in V. 6 nicht praeda, sondern – unter Verweis auf Plutarch (de pueror educ 120) – den Akt des Raubens oder Beutemachens (50). Meyer erklärt V. 6 wie folgt: „nicht für ein Rauben hielt er das Gott-Gleichsein, d.h. nicht so sah er die Gottgleichheit […] an, als wäre sie ein Verhältniss des Beutemachens, als bestehe sie im Ansichreissen fremden Besitzes“ (50). (d) Statt andere zu berauben, hat Christus sich selbst, d.h. der vormenschlichen Doxa entleert und die μορφὴ θεοῦ gegen eine μορφὴ δούλου eingetauscht (53). Die KenosisKenosis Christi vollzieht sich als „Ausziehen“ (ἐκδύειν) der göttlichen μορφήμορφή (54) und wird als κρύψις realisiert. Meyers Deutung, die sich 1847 noch nahe an der Tübinger Position im Theologenstreit des 17. Jahrhunderts hält, ist in vielen, aber doch nicht in allen Punkten mit der Interpretation de WettesWette, Wilhelm M. L. de verwandt.Wette, Wilhelm M. L. deKenosis4 Tatsächlich ist eine Differenz zwischen beiden Kommentaren auffällig: Bei der Beschreibung des (göttlichen) Status Jesu als handelnder PersonPerson, persona und des Vorgangs der Kenosis unterscheidet sich de Wettes Sicht auf Phil 2,6f. von der Meyers.Wette, Wilhelm M. L. deMeyer, Heinrich A. W.Kenosis5
Mit der zweiten Auflage seines Kommentars beginnend ist Meyer offenbar darum bemüht, seine Deutung von Phil 2,6ff. (möglichen) Kritikern zum Trotz zu verteidigen oder auch zu korrigieren. So fügt er eine Bemerkung zum antidoketischen Gehalt von Phil 2,7 an (18592: 60) und erweitert seine Ausführungen zur christologischen Deutung von Phil 2,6-8 (1847: 57; 18592: 62-64) in signifikanter Weise: Der göttliche Logos legte bei der Menschwerdung die μορφὴ θεοῦ ab, also die göttliche Doxa als eine „Existenzform“, behielt aber das εἶναι ἴσα θεῷ als ein göttliches „Selbstbewusstsein“ bei (18592: 63). Meyer distanziert sich jetzt – und unter explizitem Verweis auf Gottfried Thomasius (1802-1875)Person, persona6 – von seiner 1847 angedeuteten Nähe zu der von den Tübinger Theologen im 17. Jahrhundert (s.o.) vertretenen Vorstellung von der κρύψις. Meyer grenzt sich zugleich kritisch von weitergehenden zeitgenössischen Versuchen ab, die KenosisKenosis Jesu als eine „Selbstbeschränkung des göttlichen Logos“ (so Thomasius) oder eine „ethische Ineinanderbildung göttlichen und menschlichen Lebens in der PersonPerson, persona Christi“ (18592: 63) zu deuten. Solche Versuche verweist Meyer letztlich auf das Gebiet der Dogmatik (18592: 63; 18653: 69f.). Offenbar hat Meyer sich zwischen 1847 und 1859 dennoch u.a. von dem Erlanger Gelehrten Thomasius und dessen Vorstellung einer kenotischen Christologie7 im Blick auf seine Analyse von Phil 2,6f beeinflussen, wenn nicht: korrigieren lassen.Person, persona8 Die christologischen Debatten über die sogenannte „Selbstentäußerung des Logos“ im 19. Jahrhundert sind anders gelagert als die im 17. Jahrhundert9 – das hat Meyer wohl zwischenzeitlich erkannt. Die dritte und vierte Auflage seines Kommentars von 1865 und 1874 bieten demgegenüber zwar bibliographische Ergänzungen und sachliche Erläuterungen, aber keine nennenswerten Revisionen (18653: 68-70; 18744: 85-88). Nur insistiert Meyer 1865 schon in der „Vorrede“ darauf, an der paulinischen Präexistenz-Christologie des Philipperbriefes festhalten zu wollen (18653: VI). Sein Zugriff auf Phil 2,7 ist von der ersten bis zur vierten Auflage dogmengeschichtlich bestimmt.
Die Kommentierung von Phil 2,5ff. (91-125) in FrankesFranke, August H.