Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
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und einem darauf folgenden warmen Bad, dann kehrte sie ins Bett zurück und nahm das Frühstück ein, bis Fräulein Keller, eine wohlgenährte fröhliche Person mit einem goldenen Klemmer im rosigen Gesicht, zur Massage aus der Stadt eintraf. Gegen zehn Uhr erhob sie sich, und etwa eine Stunde darauf, nachdem sie von der Masseuse noch frisiert worden war, erschien sie in der häuslichen Öffentlichkeit. Von diesem Augenblick an bis zur Nachmittagsstunde, in der sie sich zur Ruhe hinlegte, erlebte sie fast nichts als Ärger und Sorgen, besonders im Hinblick auf Küche und Mittagessen. Vor dem Tee begann sie «Ordnung zu machen», eine Beschäftigung, die sich auf den hintersten Knopf erstreckte, und zum Tee selber empfing sie dann gelegentlich ihren Sohn oder die Schwiegertochter mit einem der Kinder. (Mit beiden Kindern zugleich durfte Gertrud nie erscheinen, da sich der Knabe sonst angeblich der Aufsicht entzog und fürchterliche Dinge anstellte.) Häufig fuhr sie daraufin die Stadt, um dies und jenes einzukaufen, wobei sie durch ihr umständliches Nörgeln und ihre Unentschlossenheit sich jedem Ladenmädchen unvergeßlich einprägte. Sogleich nach dem Nachtessen erschien Fräulein Keller wieder, der Massage folgten ausgedehnte Waschungen, und um zehn Uhr endlich begab die geplagte Frau sich seufzend zur Ruhe.

      Als ihr Sohn eintrat, kam sie aus der Küche gelaufen, eine weißhaarige, noch immer sehr stattliche Erscheinung mit großen, anklagenden Augen in einem abgenutzten, leichenblaß gepuderten Gesichte. «Albrecht!?» rief sie mit erhobenen Händen, flehend und fragend zugleich, erschrocken über seinen Eintritt zu dieser ungewohnten Stunde.

      «Guten Abend, Mama!» grüßte Hartmann. «Wie geht’s dir?»

      «Ach, Albrecht, quäl mich nicht lange!» rief sie. «Sag mir lieber, was dich herführt!»

      «Nichts von Bedeutung! Willy und Mathild sind da und lassen dich grüßen.»

      «Albrecht, ich kann sie nicht empfangen, mein Gott … es ist ja viel zu spät, das weißt du doch … du machst ihnen das begreiflich, gelt, sei so gut! Und ich kann auch nicht hinunterkommen …»

      Hartmann, der Mama jederzeit mit Geduld und Höflichkeit behandelte, nickte beruhigend. «Das sollst du auch gar nicht», sagte er. «Ich wollte dich nur bitten, uns das Gastzimmer zur Verfügung zu stellen …»

      «Albrecht!!»

      «Du wirst nicht das geringste damit zu tun haben, Mama, das kann ich dir versichern …»

      «Nichts damit zu tun haben! Mein Gott, Albrecht, du hast ja keine Ahnung, was ein Haushalt ist. Und ich habe doch nur zwei Mädchen …!»

      «Was soll ich machen, Mama? Unser Gastzimmer ist besetzt, Gertrud hat eine Freundin eingeladen. Soll ich Willy und Mathild wieder fortschicken?»

      «Warum muß denn Gertrud eine Freundin einladen! Sie weiß doch …»

      Hartmann entgegnete nun nichts mehr, er blickte Mama nur mit betrübter Miene an und wartete geduldig aufihre Zusage. Als die Frau dies merkte, rang sie die Hände, bat ihn, einen Augenblick zu warten, und kehrte hastig in die Küche zurück. Hartmann hörte sie verzweifelt klagen, weil in ihrer Abwesenheit die Köchin den Salat angerichtet hatte. «Ich habe Ihnen doch deutlich gesagt, Sie sollen warten!» rief sie. «Jetzt haben Sie’s verpfuscht …»

      Als sie wieder herauskam, mit der Absicht, den Sohn in die Wohnstube zu führen, um ihm dort die Schwierigkeiten klarzumachen, trat Hartmann den Rückzug an. «Also danke, Mama!» sagte er rasch. «Ich werde es so anordnen, und du wirst gar nichts davon merken. Auf Wiedersehen!» Er nickte mit freundlicher Miene und zog schnell die Korridortüre hinter sich zu.

      «Albrecht! Ihr richtet mich zugrunde!» rief sie ihm nach.

      Er traf die neuen Gäste im Eßzimmer und wurde von seinem Vetter Willy sogleich in ein Gespräch über militärische Dinge verwickelt, im Augenblick, als von der andern Seite her Gertrud und Susi eintraten.

      Gertrud stellte zuerst die Frauen einander vor. Susi streckte mit freudig bereitem, etwas schwärmerischem Lächeln rasch und ahnungslos die Hand aus, erlebte aber zu ihrem unaussprechlichen Ärger, daß die junge Frau auf diese herzhafte Art nicht einging.

      Frau Mathilde war eine sehr aufrechte, schlanke Gestalt mit einem regelmäßigen Gesicht von strenger, offenbar bewußter Schönheit und mit prachtvollen, mild leuchtenden Schultern im flaumigen Rahmen einer weit zurückgeschobenen Boa. Ohne Susi mehr als die schlaffen Finger und ein kühles Nicken zu gönnen, wandte sie sich mit einer Bemerkung über den Reitunfall eines bekannten Offiziers an Gertrud, wobei sie mit der erhobenen, leicht aus dem Handgelenk fallenden Rechten lässig das eine Ende der Boa liebkoste. «Ich finde es bedauerlich», sagte sie. «Aber er hätte dieses Pferd niemals reiten dürfen, und man hat ihn ja auch vorher gewarnt.»

      Gertrud empfand das Verhalten Mathildes als eine Beleidigung ihrer Freundin und war empört, aber zugleich ärgerte sie sich über Susis plebejische Zudringlichkeit. «Ach, das kann schließlich jedem passieren», erwiderte sie gereizt und wandte sich ab, um etwas zu flüchtig auch Susi und Herrn Frey einander vorzustellen.

      Hauptmann Frey von Wurzach, ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit hohem, schmalem Schädel, spärlichem, in der Mitte gescheiteltem Haar und einer langen, steil abfallenden Nase gebärdete sich auch im Zivil durchaus als Offizier. Sein Rock war eng in die Taille geschnitten; er trug ihn zugeknöpft, hatte die Hände flach in die Seitentaschen geschoben und hielt sich äußerst gerade. Der hohe, steife Kragen erlaubte ihm nicht, den Hals frei hin und her zu drehen; wenn er sich im Gespräch nach rechts oder links zu wenden hatte, drehte er zugleich mit dem Kopf auch den Oberkörper herum. Vor Susi nahm er die Hände aus den Taschen, führte mit zusammengerückten Absätzen eine sehr knappe Verbeugung aus und sagte mit einem Lächeln, das Gertrud arrogant fand, völlig unbeteiligt: «Sehr angenehm!»

      «Du kannst Willy gratulieren, Gertrud, er kommt zum Generalstab», bemerkte Hartmann mit der unentschiedenen, leicht ironischen Miene, die seine wahre Meinung weder recht verbarg noch preisgab.

      «Na ja, dem entgeht man nicht», sagte Willy auf Gertruds kühl anerkennende Kopfbewegung überlegen lächelnd. Er hatte eine hohe, etwas näselnde Stimme, einen gemacht schneidigen Tonfall und die Gewohnheit, seine Mundart, die ihm nicht genügte, fortwährend mit hochdeutschen Brocken zu vermengen.

      Nachdem die kleine Gesellschaft sich zum Essen hingesetzt hatte, nahm das Gespräch bald die unvermeidliche Wendung zum österreichisch-serbischen Konflikt, der als Folge des Attentats von Sarajevo alle Welt beschäftigte. «Serbien soll ja mobilisieren», sagte Frey. «Lächerlich!»

      «Nicht ganz lächerlich!» wandte Hartmann ein. «Ein Volk, das derart provoziert wird wie jetzt die Serben … ob verdient oder nicht, ist eine andere Frage … hat sich vorzusehen. Man liest ja täglich von österreichischen Ausschreitungen gegen Serben; kein Wunder, wenn ihnen die Galle überläuft.»

      «Na ja, aber die Serben sind doch eine Schweinebande! Ich bin fest überzeugt, daß sie alle mit den Attentätern unter einer Decke stecken. Und diese Mordbengel hatten ja eingestandenermaßen beschlossen, daß sie als Serben für ihr Land sterben wollten. Ausgezeichneter Heldentod, wenn solche Kanaillen für ihr dreckiges Wanzenparadies am Galgen baumeln!»

      Hartmann lachte laut, fing zugleich einen erbitterten Blick Gertruds auf und beeilte sich, seinem Vetter zu antworten. Gertrud konnte ihre gereizte Stimmung schon nicht mehr verbergen, und die Gäste merkten es.

      Das Essen war kaum zu Ende, als Frau Hartmann Gertrud dringend zu sich bitten ließ. Gertrud schickte das Kindermädchen hinauf und ging in ihr Zimmer, wo sie hastig eine unnötige, in diesem Augenblick sinnlose Beschäftigung mit den verschiedensten Dingen begann. Sie ordnete die Kinderkleidchen, die schon geordnet waren, legte für Albrechtli ein frisches Hemd bereit und rückte die Gegenstände auf dem Toilettentisch zurecht, bis jemand anklopfte.

      Susi trat ein und kam mit erschrocken fragendem Blick rasch auf sie zu. «Gertrud, was ist mit dir? Mein Gott, du warst beim Essen so … Was hast du? Red doch, du bist ja ganz …»

      Gertrud lief hinaus, ohne zu antworten. Im Eßzimmer, das Hartmann mit den Gästen bereits verlassen hatte, wurde sie vom Kindermädchen eingeholt. Frau Hartmann, meldete das Mädchen, habe oben im Gastzimmer die Bettwäsche