Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
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ausdrücken, daß er vermutlich weder das Semester noch die Offiziersschule besuchen könne, und erst ganz am Schluß so nebenbei den Unfall erwähnen. Schmunzelnd legte er sich das zurecht, dann fällte er mit dem Taschenmesser in mühsamer Arbeit die zwei jungen Eschenstämmchen, die er sich beim Hinaufkriechen zum Ziel gesetzt hatte, und benutzte sie auf dem Heimweg als Krücken, wobei ihn die Achselhöhlen bald mehr zu schmerzen begannen als der nun ruhig hängende Fuß.

      Er kam vor das Haus, sehr müde, und wurde zuerst von Christian entdeckt.

      «Was hast du angestellt?» fragte Christian besorgt.

      «Ich bin ein wenig ausgeglitscht … nicht der Rede wert.»

      «Häng dich mir da an den Rücken! Ich trag dich die Treppe hinauf …»

      «Ja, eigentlich könnte ich selber …» antwortete er zögernd, doch er konnte nicht mehr selber, er war erschöpft, und da sich Christian ohne viel Worte bereitstellte, machte auch er keine Umstände, schlang ihm von hinten die Arme um die Schultern und ließ sich tragen.

      Im Hause selbst aber entstand eine ziemliche Aufregung, die Mädchen empfingen ihn mit Schreckensrufen, die in eine Flut von Fragen und Mitleidsbeteuerungen übergingen, die Hausfrau rief Jesus, Maria und Josef an, schickte Christian sogleich mit dem Wagen ins Dorf zum Arzt und erteilte den Töchtern unwirsche Befehle. «Aech, macht doch keine Geschichten!» rief Fred, ernstlich geärgert, und noch als er geborgen in seiner Kammer lag, verwahrte er sich gegen die verschiedenen, seiner Ansicht nach übertriebenen Maßnahmen, die Tante Marie für nötig hielt.

      Nach zwei Stunden wurde ihm von einem ältern freundlichen Landarzt der Fuß wieder eingerenkt, was er leicht erbleichend, aber lautlos ertrug. Darauflag er denn als Patient am hellen Nachmittag in seinem buntgeblümten breiten Bett, das rechte Bein auf etwas erhöhtem Lager, den immer noch anschwellenden Fuß in einem Verband mit essigsaurer Tonerde, und begann das Ereignis zu bedenken, eher neugierig als mißmutig, wie einen listigen kleinen Zufall, der die Weiche plötzlich anders stellt als die unentrinnbaren Mächte der Eltern, des Vaterlandes und der Hochschule es haben wollten. «Man muß nur ein bißchen den Fuß verrenken», dachte er belustigt, «dann fällt alles um, was uns lenkt. Was gäbe es für ein Geschrei, wenn ich ohne diesen nichtigen Anlaß fünf Wochen aus meiner Karriere streichen würde! Am Fleisch und Bein hängt alles!» In der Frühe des zweiten Tages, als die Rusgrundsonne hinter den waldigen Hängen heraufkam und seine Kammer erfüllte, stellte er schmunzelnd fest, daß er an diesem Tage unbedingt unter allen Umständen wieder in Zürich sein mußte.

      Am nächsten Morgen erfuhr er zu seiner Überraschung freilich, daß vor einem kranken Fuß denn doch nicht alles umgefallen war. Mama nämlich, die seinen Brief gar nicht erst beantwortete, kam, von Gertrud und dem Hausarzt begleitet, in einem geräumigen Mietauto, einem Sechsplätzer, ganz einfach hierher gefahren. Er wurde sorgfältig in die Stadt zurück befördert und nach einer Röntgenaufnahme des Fußes wieder in sein eigenes Bett gesteckt. Indessen fand er sich damit ab. Gertrud hatte bei der Heimfahrt versprochen, ihn zu ihrer neuesten Hausmusik im Wagen abzuholen, sobald der Arzt es erlauben würde, außerdem mußte man ihn auch hier in Ruhe lassen, und die Übersiedlung änderte nichts an der belustigenden Tatsache, daß ein geschwollener Fuß sich stärker erwies als die Notwendigkeit der akademischen Bildung und der Ruf des Vaterlandes.

      3

      Gertrud hatte bald das Streichquartett, bald die zwei Geiger zum Spiel ins Hartmannsche Haus geladen und war dabei mit Albin Pfister freundschaftlich vertraut geworden; dieser Mensch «interessierte» sie desto mehr, je näher sie ihn kennenlernte, und sie dachte in ihrer gesellschaftlichen Unbefangenheit gar nicht daran, aus konventionellen oder anderen Gründen sich den Umgang mit ihm zu versagen. Ihren Bekannten gegenüber gestand sie denn auch unbedenklich, dieser Pfister sei ein «heillos sympathischer und flotter Kerl». Sie wußte nicht oder noch nicht, was sie zu verschweigen gehabt hätte.

      Eines Abends, nachdem die zwei Geiger zum Schluß ein Duo gespielt hatten, fragte sie Albin, an ein früheres Gespräch anknüpfend, plötzlich leise und lebhaft: «Haben Sie mir das Verzeichnis mitgebracht?»

      Albin bewegte mit einem ratlosen Lächeln langsam den Kopf, indes seine Hände mit dem Violinbogen zu spielen begannen, den er eben entspannt hatte. «Überlegt habe ich es mir lange», sagte er, «aber … ich kann Ihnen nicht so viel Bücher aufschreiben, wie ich gerne möchte, Sie würden niemals alles lesen … und eine Auswahl zu treffen, ist furchtbar schwierig …»

      «Ich will aber alles lesen!» rief Gertrud und erhob sich. «Schreiben Sie alles auf, was Sie …»

      «Gertrud, mach dir doch keine Illusionen!» sagte Paul mit einer müden Handbewegung, während er seine Geige, ein altes französisches Instrument, sorgfältig einhüllte. «Du würdest das unmöglich verdauen …»

      «Ach was!» rief Gertrud betrübt und ärgerlich zugleich.

      «Das möchte ich nicht behaupten», sagte Albin lächelnd, «aber … Sie haben mich gebeten, von Pauls und meinem eigenen Maßstab auszugehen. Dieser Maßstab beruht aber auf einer jahrelangen intensiven Lektüre, die durchaus nicht planmäßig vor sich gegangen ist, sondern scheinbar willkürlich, in Wirklichkeit aber, wie ich überzeugt bin, nach einem geheimen persönlichen Gesetz … ja, nach einem Gesetz, dem, grob gesagt, im Materiellen ungefähr das Gesetz unsrer Ernährung entspricht …»

      «Jawohl!» rief Paul, dem dieser Gedanke gefiel. «Genau so! Und nun stell dir vor: du bist klein und hungrig und verlangst jetzt dieselben Speisen und Getränke, die uns während zehn Jahren groß und satt gemacht haben. All das verlangst du auf einmal und hoffst uns dadurch einzuholen …»

      «Mein Gott, wie kompliziert!» erwiderte Gertrud unwillig. «Man will ein paar Bücher lesen und …»

      «Ein paar Bücher … das ist wieder etwas anderes. Lies aber bitte das Hauptwerk von Schopenhauer, den ganzen Nietzsche, die gesammelten oder meinetwegen ausgewählten Werke von Dostojewski, Tolstoi, Ibsen, Strindberg, Flaubert, Zola und so weiter. Lies das alles ohne die besondere innere Bereitschaft, die jeder einzelne dieser Autoren verlangt, um verstanden oder erlebt zu werden, und du wirst dich am Ende übergeben müssen …»

      «So hab ich’s also endgültig verpaßt und bleibe eine dumme Kuh», antwortete sie gereizt.

      «Nein, so kommen wir nirgends hin», sagte Albin entschieden. «Und du übertreibst, Paul. Frau Hartmann hat auch Voraussetzungen, nur andere als wir, und …» Er wandte sich an Gertrud. «… Sie kennen Ibsen, Zola und haben auch von den Russen dies und jenes gelesen … ich werde Ihnen doch ein Verzeichnis machen, wenn Sie mir einen Blick in Ihren Bücherschrank gestatten wollen …»

      «Ja, bitte kommen Sie!» Ohne Paul weiter zu beachten, ging sie Albin voran in den kleinen Salon. Hier ließ sie sich auf den nächsten Stuhl fallen. «Ach, Paul macht mich immer ganz mutlos», sagte sie finster. «Ich mag nicht mehr von solchen Dingen reden, wenn er dabei ist …»

      «Ja, Paul ist ein Skeptiker. Es gibt Dinge, die ich jetzt auch nicht mehr ohne weiteres mit ihm bereden möchte …»

      «Nicht wahr?» sagte sie lebhaft. «Mir ist manches … ich will nicht sagen heilig, aber doch so wichtig, daß ich seine Glossen darüber einfach taktlos finde und in Zukunft überhaupt nichts mehr sagen werde … Ja, also das sind die paar Bücher, die ich besonders gern habe … die im Wohnzimmer haben Sie ja schon gesehen …»

      Albin stand vor einem kleinen nußbraunen Schrank mit Glastüren und warf nach kurzer Musterung einen erstaunten Blick auf Gertrud, den sie neugierig lächelnd auffing. «Baudelaire, Mallarmé, Maeterlinck …?» fragte er und fuhr dann mit wachsendem Erstaunen fort: «Rilke, George, Hofmannsthal … Ja, aber … davon haben Sie mir nie etwas gesagt! Ich dachte immer, Sie … ja …»

      «Jaja, ich sei so eine durchschnittliche Romanratte», ergänzte sie, erhob sich rasch und trat neben ihn. «Sehen Sie, hier …»

      «Nein, gewiß nicht! Aber Sie stellten sich so ahnungslos … Ja, das ist ein wundervolles Buch!»

      «Warum soll ich davon schwatzen! Ich habe auch mein Refugium …»

      «Hm