«Kommt, wir gehen auf die Heubühne!» rief Lisi, begeistert von diesem Einfall. «Es sind neue Bretter drauf, es ist schön glatt, wie gemacht zum Tanzen.»
«Ach nein, Lisi!» widersprach Martha. «Ihr fallt noch herunter!»
Aber Lisi ließ sich nicht abhalten und schob den Vetter, der ihr gutmütig folgte, auf die fest anliegende, mächtige Heuleiter.
Martha zauderte mit bekümmerter Miene einen Augenblick, dann stieg sie hinter den beiden auch hinauf.
Die anderthalb Meter breite Brücke lag unter dem Dachfirst, in der Längsrichtung des Gadens. Auf der einen Seite war der Heustock bereits verschwunden, und hier gähnte jetzt eine dunkle Tiefe; auf der andern Seite aber lag noch soviel Heu, daß man es wagen durfte, hinabzuspringen.
Lisi tanzte mit Fred auf der Brücke hin, aber Fred war nicht zum Tanzen aufgelegt und trieb nur Unsinn, er hielt sich die Tänzerin scherzhaft weit vom Leibe und hüpfte mit krummen Beinen wie ein Frosch tolpatschig um sie herum, als ob er sein Lebtag noch nie getanzt hätte.
«He nein, Fred, tu doch nicht so dumm!» rief Lisi. «Hast du gehört? Wenn du nicht recht tanzen willst, werf ich dich ins Heu hinunter!»
«Oder ich dich!» erwiderte Fred und packte sie an.
Lisi kniff ihn so kräftig in beide Arme, daß er sie fahren ließ, und rannte, von ihm verfolgt, die Brücke entlang, sprang aber plötzlich mit einem fröhlichen Schrei auf den Heustock hinunter. Fred sprang sogleich hinter ihr her, und gleich darauf wagte auch Martha den Sprung.
Lisi aber glitt, eh Fred sie fassen konnte, vom Heu hinab und rannte zur Leiter, auf der sie knapp vor dem hitzig werdenden Verfolger die Brücke wieder erreichte.
Martha glitt vom Stock hinab und blieb unten. «Tut doch nicht wie Kinder!» rief sie. «Ihr fallt sicher noch herunter!»
Aber die Jagd ging weiter, Lisi rannte bis zur Mitte der Brücke, dann sprang sie abermals hinab, und Fred ließ nicht auf sich warten. Als Kinder hatten sie das unzählige Male wiederholt und beim Sprung entzückt aufschreiend eine grauslich wohlige Beklemmung erlebt. Es war auch jetzt noch ein Vergnügen, man spürte im Fallen einen merkwürdigen, kitzligen Druck in der Zwerchfellgegend und plumpste nach der fröhlich bangen Spannung so tief ins Heu hinein, daß man ordentlich Mühe hatte, sich wieder hinauszuarbeiten. Lisi blieb nun jedenfalls stecken, bis der Vetter bei ihr war, ob sie sich nun ergeben wollte oder nicht. Unter seinen strafenden Griffen wieherte sie zuerst wie eine junge Stute, dann gab sie die Abwehr auf, begann zu wimmern und schien bereit, alles auf sich zu nehmen.
Fred drückte sie tief ins Heu hinein, schnaufte sich aus und hielt die Erschöpfte nieder. So verharrten sie eine Weile, das Heu knisterte leise, und der trockene Staub, den sie aufgewirbelt hatten, drang ihnen in die Nase. Auf einmal spürte Fred auf seinem Kopfe Lisis Hand, die über sein Haar zurückfuhr und mit sanftem Druck auf seinem Nacken verweilte.
Martha stand atemlos lauschend unten in der Dunkelheit. «Lisi!» rief sie gedämpft. Als sie keine Antwort erhielt, ging sie zu der Stelle, über der das Heu knisterte, aber der Stock war zu hoch, man konnte weder hinaufklettern noch etwas sehen. Da lief sie aufgeregt zum hintern Tor hinaus und dem Hause zu, als ob sie dort Hilfe zu holen gedächte, aber auf halbem Weg begann sie zu zögern und änderte plötzlich die Richtung. Sie bog nach Westen ab, in die Wiese hinein, die von der Abendröte über dem nahen Bergwald schon kein Licht mehr empfing, und schlich mit feuchten Augen durch die Dämmerung; es schien ihr gleichgültig, daß sie dabei das schönste Gras zertrat.
Am nächsten Morgen unternahm Fred schon früh eine letzte Forschungsreise durch das Rustobel hinab. In den oberen Teilen hielt er sich nicht auf, aber weiter unten, wo er selten gewesen war, drang er nur langsam und neugierig spähend vorwärts. Das Tobel wurde breiter, die Hänge waren weniger steil, aber noch ebenso dicht bewachsen, und wo sich Lichtungen öffneten, hatte man wieder reihenweise junge Tännchen angepflanzt. Manchmal kam ein schmaler Pfad von der Wiese herab, lief dem Bach entlang und verlor sich. In der Nähe von Bauernhöfen gab es am Hang oft häßliche nackte Stellen, die von allem möglichen Kehricht übersät waren. Eine solche Ablage umging Fred oben auf der Wiese und bemerkte dabei, daß er nicht mehr weit von einem Weiler entfernt war, dessen Hausdächer man auf beiden Seiten des Tobels zwischen den Obstbäumen gewahrte. Er stieg wieder hinab, folgte dem Bach noch eine Weile und wollte dann gemächlich umkehren; da entdeckte er eine von Kindern angelegte, aber verlotterte kleine Wassermühle. Am Rade fehlten zwei Schaufeln, eine der Seitenstützen, auf denen sich die Achse gedreht hatte, war zerbrochen, und das Kanälchen, das dem Rad vom Bach her Wasser zugeleitet, ließ sich im versandeten Geröll nur noch erraten. Der Schaden war aber nicht unheilbar. Fred stellte vor allem eine neue Seitenstütze her, legte die Achse wieder auf und trieb das Rad mit dem Finger an; es drehte sich. Jetzt mußte kanalisiert werden, und zwar so, daß das Wasser am Ende genau auf die Radschaufeln hinabfiel. Vorsichtig reinigte und verdichtete er die noch vorhandene Fallschwelle, dann grub er nach rückwärts den alten Kanal wieder auf und öffnete ihn schließlich mit großer Spannung gegen den Bach hin. Das Wasser strömte in das Kanalbett, floß rasch zur Schwelle, fiel hinab – das Rad drehte sich. Fred sah strahlend zu, das Rad drehte sich unter dem Fall und hörte nicht auf, sich zu drehen. Er betrachtete es lange und aus verschiedenen Entfernungen, dann begann er den Kanal auszubauen und befestigte die nachgiebigen Kiesdämme mit großen würfelförmigen Steinen, die er weit herum zusammensuchte.
Endlich mußte er umkehren, man war im Rusgrund pünktlich mit dem Mittagessen, und er wollte nicht am letzten Tage noch zu spät kommen. Statt nun aber den bequemen Fußweg durch die Wiese hinauf einzuschlagen, kehrte er durch das Tobel zurück. «So, Schluß, es ist zu Ende!» dachte er, und dieser Gedanke, den er am Morgen noch gewaltsam unterschlagen hatte, ließ ihn nicht mehr los. Weiter oben, an einem der steilen Hänge, glitt er aus und hielt sich, um schneller vorwärtszukommen, von nun an mehr an das Bachufer, wobei er unbekümmert durch das Wasser watete, wenn ihm hohes Geröll den Weg versperrte. Am Horizont seiner Vorstellungen tauchte die Stadt auf mit ihrer Hatz und ihrem Lärm, mit Hörsälen, Laboratorien, achselzuckenden Professoren und studentischem Komment, mit ihrer geschniegelten Gesellschaft und mit der Kaserne, dieser öden Drillanstalt, wo er bald wieder den Hampelmann spielen mußte. «Hol’s der Teufel! Warum bleib ich nicht einfach hier?»
Er sprang in diesem Augenblick von einem Block auf den nächsten hinüber, glitt aus, stürzte heftig hin und spürte im rechten Fuß einen so rasenden Schmerz, als ob man ihm mit einem Messer das Gelenk durchstieße. «Verflucht, oh verflucht!» stöhnte er laut, mit verkniffener Miene, und blieb regungslos liegen, die Stirn eiskalt umhaucht. Nach ein paar bangen Minuten erholte er sich ein wenig und versuchte vorsichtig, seine unbequeme Lage zu ändern, aber kaum bewegte er den Fuß, ja noch eh er ihn bewegte, beim bloßen Versuch schon, spürte er denselben Schmerz im Gelenk, einen unverschämt plötzlichen, stechenden Schmerz. Er blieb nun eine Weile liegen, so wie er eben lag, und begann sich mit dem Gedanken abzufinden, daß er den Fuß verstaucht, ausgerenkt oder gebrochen hatte. «Soso … aha … na ja!» sagte er kleinlaut.
Indessen begann der Fuß offenbar anzuschwellen und einen immer heftiger spannenden Druck auf den Schuh auszuüben. «Ich muß den Schuh ausziehen», dachte Fred, und versuchte es, aber nur einmal. «Verdammt, verdammt, ich kann doch nicht hier liegenbleiben!» Er begann zu rufen. «Heh! Heh! … Uuui! Heh … Hilfe!» Sowie er «Hilfe» rief, kam ihm das lächerlich vor, er schämte sich, er hatte sein Lebtag noch nie um Hilfe gerufen. Und man schrie doch wegen eines schmerzenden Fußes nicht um Hilfe! «Heh … heh da!» rief er noch ein paarmal, doch war nun offenbar niemand da oben auf den Wiesen, und im Rusgrundhaus konnte man ihn unmöglich hören. «Quatsch!» sagte er ärgerlich. Es war ihm klar, daß er allein hier fortkommen mußte.
Er biß die Zähne zusammen und begann sogleich mit wütender Miene auf den drei heilen Gliedern aus dem Geröll zu kriechen, wobei er das rechte Bein wie einen toten Gegenstand hinter sich her zog und dem heftigen Schmerz, den er bei jedem Anstoßen des Fußes empfand, die ganze erzürnte Kraft seiner Verachtung entgegensetzte. Auf diese Art schleppte er sich im Verlauf einer halben Stunde schräg den Hang hinauf und setzte sich oben erschöpft auf die Böschung.