Fred bejahte die Frage nach Karl eifrig, was den Vater Ammann sichtlich befriedigte.
«Er bekommt in der Stadt jetzt eine sehr gute Stelle», bemerkte Frau Marie mit offener Genugtuung.
«Weißt du», rief Lisi lebhaft, «wenn Karl in der Stadt wohnt, kommen wir dann auch mehr nach Zürich.»
«Und im letzten Wiederholungskurs … habt ihr einander nie gesehen?» fragte Onkel Robert.
«Doch, ich hab ihn gesehen, aber er mich nicht», antwortete Fred. «So ein Hauptmann hoch zu Roß», fügte er scherzhaft verächtlich bei, «sieht sich nach dem Gewürm fremder Korporale überhaupt gar nicht um, nicht wahr!»
«Hähää!» machte der Alte heiser und strahlend vor Vergnügen.
«Du kommst doch jetzt auch in die Offiziersschule, nicht?» fragte Tante Marie. «Ja … wie lange ist es schon her, daß Karl die Offiziersschule gemacht hat!»
Das Gespräch drehte sich weiter um Karl, die ganze Familie war stolz auf ihn. Fred mußte ein wenig Achtung heucheln, um sie nicht zu verletzen, er kannte ihre Gesinnung und konnte sich sehr gut in ihre Lage hineindenken. Für sie war der Rusgrund kein Paradies, sondern ein abgelegenes Bauerngut mit einigen Kartoffeläckern, etwas Wald und Grasland für fünfzehn bis zwanzig Kühe, deren Milchertrag sich beim besten Willen nicht mehr steigern ließ. Zwar waren sie wohlhabend, da sie immer tätig und sparsam gelebt und außerdem ordentlich am Viehhandel verdient hatten, aber dies Leben war karg und einförmig, es führte nirgendshin und ließ sich auch nicht abschütteln. Dabei gewahrten sie ringsum auf allen Gebieten gewaltigen Fortschritt, großartige Möglichkeiten und wachsenden Reichtum, eine blühende Stadt lag ihnen vor der Nase, und zu den guten Kreisen dieser Stadt gehörte ihre eigene Verwandtschaft.
Fred fand es begreiflich, daß sie unter solchen Umständen ihren Blick nicht genügsam auf der eigenen, ewig gleichen Scholle ruhen ließen, sondern vom Leben der Zeit gefesselt wurden. Er hütete sich aber, seine eigene Meinung über diese Zeit preiszugeben, sie hätten ihn kaum verstanden, und außerdem konnte er nicht darauf schwören. Sicher war nur, daß er selber das fortschrittliche städtische Leben als «faulen Zauber» empfand, während ihn dies ländliche Dasein und Beharren unbegreiflich anzog; daß er mit seiner paradiesischen Faulenzerei auf etwas merkwürdige Art an diesem Dasein teilzunehmen pflegte, gestand er gern zu.
Nach dem Essen zog er sogleich die Kniehosen an und ging hinaus, um sich ein wenig umzuschauen und mit der Zurückhaltung des Genießers allmählich von dieser geliebten Welt Besitz zu ergreifen. Er unterhielt sich mit dem Stallknecht Bärädi, einem jungen Urschweizer aus dem Muotatal, dessen richtiger Name Bernhardin Schelbert war, begrüßte den Appenzeller Plutus, der immer dicker wurde, und versuchte umsonst, sich einem alten Kater in Erinnerung zu rufen; er schlenderte durch den Stall, zu den Schweinen, zum Hühnervolk, und erst nach dem Vieruhrkaffee, den wieder die ganze Familie gemeinsam einnahm, schlug er die Richtung auf das nahe Tobel ein. Dieses Tobel, eine tiefe, dicht bewaldete Bachschlucht, die den Rusgrund gegen Osten begrenzte, hatte Fred schon dutzendmal durchstreift, ohne es ganz zu ergründen, es barg undurchdringliche Dickichte, Teiche, kleine Wasserfälle, Fuchsbaue, weiche Moosböden, Farnhaine, Bruchhalden, merkwürdige Felsgebilde und noch manches Unerforschte.
Als er kurz vor dem Nachtessen zurückkehrte, war er bereits mit einer Neuigkeit für Christian geladen, er hatte einen Dachsbau mit frisch ausgeworfener Erde entdeckt; zu seiner Enttäuschung erfuhr er dann bei Tische, daß Christian, der im Herbst jeweilen das Jagdpatent löste, nicht nur diesen Bau kannte, sondern sogar den Dachs selber schon gesehen hatte.
Er ging frühzeitig zu Bett, er war müde, und die zwei Basen, die gewöhnlich erst abends «etwas von ihm hatten», mußten sich bis zum nächsten Abend gedulden. Eine Weile lag er noch wach im breiten Bauernbett und freute sich, daß er wieder da war. Man hatte ihm das Gastzimmer mit dem Blick gegen Osten überlassen und das zweite Bett daraus entfernt, es war eine sehr geräumige Kammer, die mit ihrem naturbraunen Getäfer jeden schönen Morgen stundenlang goldhell und warm in der Sonne lag. Ihm gegenüber an der Wand hing das Brustbild seines Großvaters Johann Gottlieb Ammann. Das offenbar schlecht gemalte Gesicht sah etwas leer aus, verriet aber doch eine gewisse brutale Lebenskraft und eine äußere Ähnlichkeit mit Onkel Robert. Papa glich ihm kaum; vielleicht hatte er ähnliche Augen, aber die Augen des Johann Gottlieb waren dem Maler vermutlich mißlungen, sie starrten mit einem eher tierischen als menschlichen Blicke dunkel unter den Brauen hervor.
Fred wußte von seinem Großvater nur, daß er aus einem Dorf des Zürcher Oberlandes stammte, eine schöne, wohlhabende junge Witwe geheiratet und gleich darauf den Rusgrund erworben hatte. Hier also waren seine Kinder zur Welt gekommen, vier Söhne und drei Töchter, soviel er sich erinnerte; von den Töchtern lebte nur noch Tante Klara, von den Söhnen war einer früh gestorben, ein anderer nach Amerika ausgewandert. Papa und Onkel Robert bildeten also auf diesem Stammbaum die zwei starken Seitenäste, die den Fortbestand des Geschlechtes Ammann aus dem Rusgrund gesichert hatten.
«Merkwürdig, es sind doch zwei so ganz verschiedene Menschen», dachte Fred. «Sie müssen nicht viel Gemeinsames mitbekommen haben, jeder hat früh seine eigene Richtung eingeschlagen und der Abstand ist noch größer geworden. Onkel Robert hat eine Unterwaldnerin geheiratet, die ihr eigenes Blut mitbrachte, und aus dieser Verbindung sind wieder völlig andere Menschen hervorgegangen, die sich voneinander abermals unterscheiden und ihre eigenen Richtungen einschlagen. Und erst auf unserer Seite! Papa ist nach dem Studium in der Stadt geblieben und hat eine Tochter aus vornehmen städtischen Kreisen geheiratet, die von ganz anderer Seite herkam als er. Was hat wohl Mama noch alles mitbringen müssen, daß wir faulen Äpfel, Paul und ich, so weit entfernt vom großväterlichen Baumstamm niederfallen konnten. Ist das nun ein Gewinn oder ein Verlust? Zwar gleichen ja auch wir einander gar nicht, Paul hat ausschließlich geistige Interessen, während ich … weiß der Teufel! Gertrud gleicht der Mama, ihre Kinder haben bestimmt kein Ammannsches Blut mehr, und mit Lisi und Martha hat sie schon gar nichts gemein, obwohl das ihre Kusinen sind. Aber Severin ist wieder ein Ammann, wenn auch ein städtischer; ob er wohl noch einen großväterlichen Zug besitzt? Oder vielleicht gibt es gar keine Züge, die unverändert durchgehen, alles wandelt sich fortwährend von Mensch zu Mensch. Es sind ja tausend Variationen möglich … oder vielmehr unbegrenzt viele … oder doch nicht unbegrenzt? Wird aus unserm Blute wieder einmal ein Typ wie der Großvater entstehen? Wenn man ausrechnen könnte, daß … ach Quatsch, man kann die Menschen nicht ausrechnen, das fehlte noch, da würden diese verdammten Mathematiker … sie würden sagen, daß in der dritten oder vierten Generation notwendigerweise … das wären Severins Kinder, meine Neffen und Nichten … es ist lächerlich, daß mein Bruder mich zum Onkel macht … man kann sich nicht wehren …»
Er merkte, daß sich seine Gedanken zu verwirren begannen und daß er jetzt schlafen könnte, aber irgend etwas schien ihm so wichtig, daß er es sich vor dem Einschlafen noch rasch klarmachen wollte, er wußte nur nicht mehr genau was, und strengte sich an, um es zu finden. «Die Variationen», dachte er schläfrig, «sind also unbegrenzt … man kann sich nicht dagegen wehren … aber wieso denn … ja, richtig, unbegrenzt, aber wie ein unbegrenztes Netz … ich bin ein Knötchen in diesem Netz … doch so einfach ist das nicht mit den Gesetzen, meine Herren Wissenschaftler … wenn ihr ausgerechnet habt, an welchem Punkt des Netzes ich mich notwendigerweise befinden muß … Punkt 2465 AH3 … werde ich euch vordemonstrieren … ich werde zurückturnen bis zu Christian, eine Bauerntochter heiraten und eine große rückläufige Bewegung … bis zum Großvater zurück … Prost Johann Gottlieb, deine schöne Witwe soll