Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
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      Frau Barbara spürte eine flüchtige Regung von Stolz, aber im Tiefern blieb sie unberührt. Sie dachte nicht daran, etwas zu verkörpern, sie hielt sich an die unmittelbare Wirklichkeit, in der sie lebte, und schaute diese Wirklichkeit viel nüchterner an als die fabelnden Männer. Das Gerede von zerfallender Form, von Zukunft und wachsender Tradition lenkte ihren Blick nicht vorwärts, sondern zurück, und statt von heiterer Zuversicht war sie von der trüben Ahnung erfüllt, daß hier eher etwas ende, eine Ammannsche Epoche sozusagen, eine glänzende Epoche, deren Fortsetzung auf jeden Fall problematisch geworden war. «Redet ihr nur, aber verkauft sind wir halt doch!» dachte sie.

      Dagegen geriet Ammann selber in eine sehr gehobene Stimmung. Er konnte in diesem Augenblick seine Hochachtung vor Hartmann nicht verbergen. «Albrecht!» rief er schallend, mit strahlender Miene, schwenkte ihm weit ausladend das schäumend volle Glas entgegen und trank es auf einen Zug aus. Gleich darauf begann er zu reden, während ihm der Schwiegersohn das Glas wieder füllte. «Wir wollen in dieser Stunde nicht nur an uns denken, meine Lieben», rief er mit heiterer Überzeugung, «sondern an die Gesamtheit des Vaterlandes. Wir dürfen mit uns zufrieden sein, es ist wahr, und wir sind stolz darauf, aber wir wollen nicht vergessen, wem wir alle unser Wohlergehen und unsere Sicherheit zu verdanken haben. Von der Zukunft des Vaterlandes, die ihrerseits in der allgemeinen Zukunft beschlossen liegt, hängt auch die unsere ab. Die allgemeine Zukunft aber würde uns wohl ebenso staunenswert vorkommen wie unsern Vätern oder Großvätern die Gegenwart. Die Entwicklung geht weiter, und mag es auch gelegentlich zu vorübergehendem Stillstand kommen, ein Rückfall ist nicht mehr denkbar, der Fortschritt ist unaufhaltsam, der Weg liegt vor allen Völkern offen. Im Glauben und Vertrauen auf diese Zukunft wollen wir unsere Gläser leeren!»

      Die Gesellschaft griff zu den Champagnerkelchen. Nur Frau Barbara regte sich nicht; mit niedergeschlagenen Augen saß sie aufrecht da und zögerte. Die meisten bemerkten es und stutzten. Sie zögerte einen Augenblick, dann, während fast alle schon tranken, erhob sie das Glas langsam, mit verschlossener Miene, und nippte daran.

      Nach dem Ende des Mahles regte sich ein gewisser Widerstand gegen die Teilung der Gesellschaft. «Ach, ihr braucht jetzt nicht gleich wegzulaufen, ihr werdet noch genug musizieren können!» sagte Frau Barbara. Da auch Severin dieser Meinung war, mußten sich die Spieler noch ein wenig gedulden. Fred aber fand es sinnlos, hier die Zeit zu verplaudern, da doch das Quintett beisammen und die Instrumente zur Stelle waren, er begann Gertrud heimliche Winke zu geben, stieß Paul in die Seite und entfernte sich schließlich zuerst. Mit einiger List gelang es dann auch Paul, Gertrud und Albin, unauffällig in den Musiksalon zu entweichen.

      Gertrud begann in einer Anwandlung von Übermut auf dem glänzenden, glatten Parkett zu tanzen.

      «Hast du schon so etwas gehört?» fragte Paul grinsend und faßte Albin am Arm. «Der Fortschritt ist unaufhaltsam … ein Rückfall ist nicht mehr denkbar … und dann die Zukunft, die Zukunft! Unglaublich! Überhaupt … ich achte ja Mama sehr hoch, nicht wahr, aber … ein solcher Abend ist doch eine üble Geschichte.»

      «Ich weiß nicht … ich habe es ganz hübsch gefunden», antwortete Albin, während er mit lächelnden Augen den spielerisch leichten Bewegungen Gertruds folgte.

      Paul blickte ihn spöttisch erstaunt an, dann schlenderte er achselzuckend von ihm weg, um seinen Geigenkasten zu öffnen.

      Gertrud tanzte zum Flügel hin, setzte sich und schlug ein paar Akkorde an, dann drehte sie sich auf dem Stuhl herum, legte die Hände in den Schoß und fragte betrübt: «Aber was machen wir jetzt, wenn die andern nicht kommen?»

      «Ich lotse sie schon noch herauf, nur keine Angst!» erklärte Fred, der diensteifrig die Pulte gestellt hatte.

      «Wir könnten ja inzwischen das Largo aus dem Bach-Konzert da spielen», sagte Paul. Er hatte das Konzert in d-moll für zwei Violinen und Klavier hervorgeholt und legte die Stimmen auf. «Albin und ich kennen den Satz, und du spielst ihn vom Blatt, wenn du ihn nicht kennst.»

      Gertrud blätterte ihre Stimme durch und war einverstanden, die Geiger stimmten ihre Instrumente, dann spielten sie das Largo, sorgfältig, andächtig, mit aller Ehrfurcht vor dem erlauchten Namen. Als sie es beendet hatten, allargando und mit großem Ton, drehte Gertrud sich langsam herum und blickte die zwei Geiger an. «Das ist wundervoll!» sagte sie leise.

      Paul nickte ironisch zustimmend.

      «Und wie das hier klingt!» sagte Albin. «Wir haben es ohne Begleitung auf meiner Bude gespielt, erinnerst du dich? Das ist ein Unterschied!»

      «Ja … in vierzehn Tagen werden hier andere Töne erklingen», antwortete er bitter. «Es wird prasseln, splittern, krachen …»

      «Ach Gott!» unterbrach ihn Gertrud unwillig.

      «Und in einem Jahr», fuhr Paul mit grimmiger Genugtuung fort, «werden an dieser Stelle vielleicht ein paar Engroskrämer einander übers Ohr hauen … vielleicht wird man auch Strohhüte fabrizieren, oder es werden hier Maschinen kreischen, es wird nach Schweiß und Öl stinken … kurz, es lebe der Fortschritt! Abbasso la musica!»

      «Ach was, ihr zieht nicht in die Wüste!»

      «Zum Stockmeier! Dort wird es anders tönen, wenn wir überhaupt noch spielen sollten, was ich bezweifle …»

      «Dann wird bei mir gespielt!» rief Gertrud aufwallend. «Überhaupt …» Sie zögerte einen Augenblick, ein zartes Rot glühte auf ihren Wangen, dann erklärte sie entschlossen: «Nächstesmal spielen wir bei mir. Und zwar kommst du zuerst einmal mit Herrn Pfister, dann wollen wir doch dies ganze Konzert probieren, ihr könnt es ein wenig üben! Sind Sie einverstanden, Herr Pfister?»

      «Sehr gern!» antwortete Albin. «Wenn Sie nicht zu große Hoffnungen auf mich setzen. Ich bin ein Pfuscher.»

      Sie hielt den Kopf schief und schielte ihn von der Seite her ungläubig an. «Ich habe Sie soeben gehört», sagte sie leise. «Das war nicht gepfuscht.»

      In diesem Augenblick stieß Fred die Tür auf und verkündete triumphierend: «Sie kommen!»

      Severin und Professor Junod traten ein, holten sogleich ihre Instrumente und setzten sich vor die Pulte, auf denen die Stimmen zum Klavier-Quintett von Schumann bereit lagen. Alle kannten das Werk, jeder hatte seine Stimme geübt, und die ersten zwei Sätze gelangen denn auch. Severin, der sich eben noch über politische Fragen ereifert hatte, war zum Glück nicht recht dabei und verzichtete auf Kritik. Fred war zufrieden. In den letzten zwei Sätzen begann es zu hapern, da und dort wurden Mißklänge laut, doch brachten sie alles zu einem guten Ende. Es war Mitternacht.

      Severin erhob sich und entspannte den Bogen, Professor Junod stand auch auf. In diesem Augenblick kam Fred vom Notenschrank her und legte eine aufgeschlagene Stimme vor jeden der vier Streicher hin. «Spielt das da noch!» bat er. Es war ein Streichquartett von Mozart, das «Jagdquartett», das er sich gemerkt hatte. «Ach, es ist zu spät, Fred!» sagte Severin unwillig. «Wir können sie da unten nicht so lange warten lassen.» Fred widersprach und wurde sogleich von Gertrud unterstützt, die über die wartende Gesellschaft nicht im geringsten beunruhigt schien. Professor Junod zog bedauernd die Brauen hoch und sah nach der Uhr. Schließlich einigten sie sich auf Pauls Vorschlag, wenigstens den langsamen Satz noch zu spielen.

      Sie rückten mehr gegen die Mitte, Gertrud schloß den Flügel und nahm in einer Ecke Platz. Fred, der den Leuchterschein, in dem sie bis jetzt gespielt hatten, nicht angenehm fand, stellte trotz Severins Bemerkung, man möge doch keine Geschichten mehr machen, die Stehlampe zwischen die Pulte. Während die Spieler ihre Instrumente stimmten, ging er zum Schalter. Einen Augenblick stand noch alles im hellsten Lichte, weiße Möbel aus dem Zeitalter Louis XVI. mit geraden zierlichen Beinen, der kunstreiche, von einem Meister der Dynastie Pfau gebaute Ofen mit den Geßner-Idyllen in zartem Blau und Weiß, die gelbe Seide der Wände, auf der sich in ovalen Rähmchen Schattenrisse von Komponisten abhoben, die unaufdringlich schöne Stuckdecke, dieser ganze wohlgestaltete Raum, in dem ein verehrungswürdiger, von der Umwelt schon überwundener Geist bis heute lebendig geblieben war. Fred drehte das Licht ab, schlich mit scherzhaft übertriebener Vorsicht auf den Fußspitzen zu seinem Stuhl und ließ sich lautlos nieder.

      Die