Wir reden schon lange davon, in die Schweiz zurückzukehren. Aber unsere Kinder haben in Amerika Wurzeln geschlagen. Das macht es so schwierig, uns zu entscheiden. Der Besitz hier wird zum Problem – die dreissig Hektaren Umschwung, davon reichlich Wald, geben immens viel Arbeit. Ich mähe mit einem Traktor alles Gras selbst. Und wenn einer der mächtigen, alten Bäume umfällt, verarbeite ich ihn mit der elektrischen Säge und der Axt zu Brennholz. Im weitläufigen Haus leben Ilse und ich auf einem Stockwerk – die oberen Zimmer nutzen wir nur, wenn die Kinder und die vier Enkel auf Besuch kommen. Hans Georg ist Ingenieur und Urs Betriebswirtschafter. Beide leben mit ihren Familien in New England – zehn Autostunden von uns weg. Monika ist single und arbeitet als Professorin für Geschichte und Geografie am Prince George’s Community College halbwegs zwischen Washington und Baltimore, zu weit entfernt, um hier zu leben.
Wir leben sehr zurückgezogen. Und offenbar sei das nicht gut für ältere Menschen, liess ich mir sagen. Einsam fühle ich mich nicht, aber etwas isoliert schon.
Was machen wir mit Haus und Grundstück? Wir werden beide bald achtzig Jahre alt. Aber die Brücken hier einfach abzubrechen und zurück in die Schweiz zu ziehen – das macht uns auch etwas Angst. Wir sind seit fünfzig Jahren fort aus der Schweiz. Vielleicht probieren wir es mal so: ein halbes Jahr hier, ein halbes Jahr dort. Ich weiss, dass Ilse nicht in Amerika sterben will; ich auch nicht, obwohl wir unsere Familie hier haben.
Jürg Padrutt, 1936
Von Chur nach Decatur, Illinois
«MIT TOURISTENVISUM EINGEREIST, GELANG ES MIR, EINE FARM ZU KAUFEN.»
Er ist ein «Heimwehbub» gewesen. Nur bei der Nana, der Grossmutter in Maienfeld, hat er es für ein paar Tage fern vom heimischen Bauernhof in Chur ausgehalten. Nun schaut Jürg Padrutt auf mehr als ein halbes Leben in Amerika zurück. Der Ackerbauer hat sich Mitte der Sechzigerjahre mit einer eigenen Farm seinen Lebenstraum erfüllt. Die Auswanderung war ein Abenteuer, aber mit Risikobereitschaft, harter Arbeit und Glück – und dank einer grossen Liebe – wurde für die Padrutts auf der «Saluferfarm» in Decatur, Illinois, Ungeahntes möglich. Das Heimweh gehört längst der Vergangenheit an, aber von sich zu erzählen, ist für den ruhigen und introvertierten Bündner ein Krampf und schwieriger als Traktorfahren. Zum Glück unterstützt ihn Margrit, seine Frau.
«Swiss Banker became American Farmer.» Die grosse Schlagzeile, die 1966 die Titelseite der lokalen Zeitung von Decatur zierte, wirbelte Staub auf. Ich weiss, einer unserer Nachbarn, mit dem wir später gut Freund wurden, spöttelte damals: «Nimmt uns Wunder, wie lange der Swiss Boy das hier macht!» Aber die Farmer in der Gegend merkten bald, dass ich lernwillig war und Einsatz zeigte, dass ich es ernst meinte. Ich bin viel mehr Bauer als Banker. Aber das Handelsdiplom im Sack, samt Praktikum auf der Graubündner Kantonalbank, war damals kein schlechtes Sprungbrett.
Gritli und ich – wir haben es geschafft hier drüben in Amerika. Mit viel Arbeit – hard work. Weil wir zusammengehalten und uns unterstützt haben. Sonst wäre es auf unserer Farm nicht gegangen. Ich foppe Gritli gern, «du warst der beste Knecht, den ich mir vorstellen kann!» Sie ist ein echter Partner, ganz klar. Dabei hatten es sich weder Gritli noch ich vorstellen können, jemals die Bündner Bergwelt, das Daheim in Chur zu verlassen und hier, Tausende von Kilometern entfernt zu leben. Hier, wo alles flach ist, wo es weit und breit keinen Hügel gibt!
Ich wurde am 7. Januar 1936 in Chur als Ältester der Bauernfamilie Padrutt geboren. Mein Bruder Oswald ist zweieinhalb Jahre und meine Schwester Meili neun Jahre jünger als ich. Schon mein Grossvater und später mein Vater betrieben auf dem «Saluferhof» Viehwirtschaft und Ackerbau – sie bauten Weizen, Gerste, Zuckerrüben und Kartoffeln an und pflegten daneben rund zweihundert Kirsch-, Äpfel- und Birnbäume. Mein Vater war ein Viehnarr, ein Viehexperte auch. In unserem Stall standen immer fünfzehn bis zwanzig Kühe und Rinder.
Ich hatte eine glückliche Kindheit, aber wir Jungen mussten auf dem Hof zünftig anpacken, während der Schulzeit und auch in den Ferien. Das machte mir nichts aus. So konnte ich daheim bleiben und musste nicht in die verhasste Ferienkolonie auf die Lenzerheide, wo ich «öppis grusigs» an Heimweh litt. Höchstens auf dem Bauernhof meiner Grossmutter in Maienfeld fühlte ich mich noch wohl. Und am liebsten war ich sowieso draussen auf unseren Feldern. Glücklicherweise drängte mich mein Vater nie, den Bauernbetrieb zu übernehmen. Er kannte meine Abneigung gegen das Vieh. Es ist für mich einfacher, Maissorten statt Kühe voneinander zu unterscheiden. Wenn ich mit dem Vater die Rinder auf die Churer Alpen bei Arosa treiben musste, hatte ich immer das Gefühl, Tiere zu verlieren – auf dem Rastplatz in Tschiertschen etwa, wo viele der Viehtreiber jeweils einen Halt machten. Wenn ich konnte, drückte ich mich vor den zehnstündigen Fussmärschen.
Auf dem Saluferhof in Chur.
Es erstaunt nicht, dass mich die Eltern nach der obligatorischen Schulzeit an die Handelsschule in Chur schickten – Berufspläne hatte ich keine. Und was ich mit dem Handelsdiplom anfangen sollte, wusste ich später auch nicht. Ein Bankenpraktikum war die einfachste Lösung. Meist war ich in den folgenden Jahren abwechslungsweise bei der Graubündner Kantonalbank oder im Militärdienst: Kavallerie-Rekrutenschule und Unteroffiziersschule in Aarau, dann die Offiziersschule in Thun, zwischendurch Abverdienen und WKS. Etliche Diensttage habe ich mit meinen Pferden, den Eidgenossen «Donax», «Curassier» und «Windsor» geleistet!
Mehr und mehr zog es mich aber in die Landwirtschaft. Um mehr Sicherheit im Alltag auf dem Bauernhof zu bekommen, belegte ich zwei Winterkurse an der landwirtschaftlichen Schule in Wülflingen. Eine kluge Entscheidung für meine Zukunft, wie sich bald herausstellen sollte.
Von einem Tag auf den anderen sah meine bisher unbeschwerte Welt völlig anders aus. 1961 starb mein Vater an einem Herzleiden. Er fühlte sich kerngesund und war plötzlich tot. Am Mittagstisch erlitt er einen Herzanfall und starb an dessen Folgen wenige Stunden später im Spital. Für mich gab es von Stund an nichts anderes, als zusammen mit meiner Mutter den Hof weiterzuführen. Mein Bruder Oswald war im Studium zum Tierarzt und meine kleine Schwester Meili besuchte das Gymnasium in Chur.
Mit Vater Georg.
Dass Meilis Highschool-Jahr in Amerika auch mein Leben von Grund auf verändern würde, ahnte 1964 niemand. Ein Austauschjahr in den USA war damals für ein Mädchen aus Chur doch eher ungewöhnlich. Aus Illinois schrieb sie ausführliche Briefe heim und meinte, sie könne sich gut vorstellen, dass es mir auf der Farm ihrer neuen Familie gefallen würde. Sie wusste, dass mich die Viehwirtschaft nicht glücklich machte. Mama und ich besuchten Meili 1965 auf dem Hof der Familie Friends in Warrensburg, Illinois. Meine Begeisterung war riesig, die weiten Felder und die weitgehende Mechanisierung zogen mich völlig in den Bann. Wie eng und kleinräumig kam mir alles vor, als ich drei Wochen später zuhause vor einem Haufen abgesägter Obstbaumäste stand und «Bündeli» machte! Amerika, das war eine faszinierende Welt!
Ob ich nicht für eine Saison rüber kommen wolle, als Schnupperlehrling auf ihre Mais- und Sojabohnenfarm, liessen mich die Friends wissen. Was für ein Angebot! Das liess ich mir nicht zweimal sagen. Mutter hatte inzwischen einen guten Knecht und eine Magd, und ich sagte zu. In kurzer Zeit lernte ich die lokalen Anbaumethoden kennen, passte mich dem Lebensstil der Farmer an und fühlte mich wohl und heimisch.
Ende des Jahres bekam ich unerwartet die Chance, eine Farm, zehn Meilen von den Friends entfernt, zu erwerben. Eine Erbengemeinschaft wollte den 133 Hektar grossen Landwirtschaftsbetrieb verkaufen; er