Gute Stunden mit Vater hatten Paul und ich im schweizerischen Schützenverein in Columbus. An diesen Treffen und bei den gelegentlichen Tanzanlässen mit reichen Essgelagen an langen Tischen fühlte ich mich wohl. Es gab Gebäck und Süsses für uns Kinder. Und ich hab den Bierduft und die klebrigen Holztische, an denen gejasst wurde, in guter Erinnerung.
Ansatzweise Unterstützung erhielt ich auch in der evangelischreformierten Kirche und bei den Pfadfindern. Da wurde ich ernst genommen, konnte mich beweisen und mit den anderen Buben um Auszeichnungen kämpfen. Vor allem aber bekam ich dort Anerkennung. Auch die Schule wurde für mich eine wunderbare Möglichkeit, aus dem tristen Zuhause auszubrechen. Ich erinnere mich an eine Lehrerin, die mir als etwa Zehnjährigem sagte: «Don, du hast ein schönes Lächeln.» Wie war ich glücklich! So etwas Persönliches hatte bis dahin nie jemand zu mir gesagt.
Es hätte viel schiefgehen können damals. Ich war ein unsicherer, scheuer und introvertierter Bub und hätte leicht auf die schiefe Bahn geraten, verbittert und sogar gewalttätig werden können. Um etwas Geld zu verdienen, trug ich als Jugendlicher in aller Frühe auf drei Routen Zeitungen aus und züchtete Kaninchen, die ich an Ausstellungen zeigte und entweder als Zuchttiere oder als Hasenpfeffer verkaufte. An Ostern, Muttertag und Weihnachten trug ich Blumen aus für 25 Cents pro Strauss überall in Columbus.
Als ich vierzehn Jahre alt war, fragte ich mich: Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Austauschen konnte ich mich mit niemandem, und ich nahm an, ich hätte meine Lebensprobleme alleine zu bewältigen. Mein Bruder nahm die Dinge eher, wie sie waren. Ich wusste, es wäre ein Leichtes, über mein Schicksal zu klagen. Aber was würde es ändern? Als Schüler lag ich in der Klasse etwas über dem Durchschnitt. Ein besonders auffälliger Junge war ich nie, weil ich scheu und zurückgezogen blieb. Wer weiss, vielleicht erbte ich von meinen Schweizer Vorfahren dennoch ein gewisses Verantwortungsbewusstsein. Und ich war irgendwie neugierig aufs Leben und wusste instinktiv: Das Leben muss mehr sein und Grösseres bieten! Ich wollte Lernen und Neues erfahren.
Vater fühlte sich anfänglich durch meinen Lerneifer bedroht. «Reicht es nicht, wenn du Drucker wirst wie ich? Warum willst du denn studieren?» Mein Unbehagen und meine Angst vor Vaters Wutausbrüchen war gross, und da ich damals mager war, reizte mich sein beständiger Druck, mich zum Essen zu zwingen, zum Äussersten. Eines Abends beim Essen, als er mich wieder einmal bedrängte, nahm ich einen Stuhl in die Hand und schwang ihn über seinem Kopf. Vater verklagte mich umgehend beim Jugendgericht. Und das Erstaunliche geschah: Der Bewährungshelfer redete ruhig und respektvoll mit mir. Er riet mir, von daheim wegzuziehen und eine höhere Schule zu besuchen.
Er fragte mich tatsächlich: «Was möchtest du jetzt tun?» So etwas war ich noch nie gefragt worden. Dass es etwas wie ein Ich gab, von dem aus man antworten konnte, war mir völlig fremd. War das ein Erlebnis! Es brach damals Erstaunliches in mir auf. Erst später wurde mir bewusst, dass dies der erste Mensch in meinem Leben gewesen war, der mir zugehört hatte und mich ernst nahm. Und alles, was in den Jahren vorher geschehen war, wurde für mich bedeutungslos. Es lag nun an mir, meine Zukunft zu gestalten.
Nach dem Abschluss an der High School im Südosten von Columbus, 1949, immatrikulierte ich mich an der Ohio State University. Ich war glücklich. Während einer Routineuntersuchung stellte man fest, dass ich infolge von Tuberkulose weisse Zellen in meinem Urin hatte. Der Entscheid war bald gefallen: Mir musste eine Niere entfernt werden.
Im Jahre 1952 entschied ich mich, Psychologie zu studieren. Das Gebiet rund um das menschliche Innenleben zog mich magisch an; diese Studienwahl hatte sicher auch einiges mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun. In Amerika gab es damals noch kaum Psychologen, und als Forschungsgebiet war es wenig bekannt. Ich erhielt ein Stipendium und eine Einladung an die Universität von Chicago. Noch nie hatte jemand aus unserer Familie ein College besucht, geschweige denn an einer Universität studiert. Jeder universitäre Kurs war spannend, oft auch beängstigend, aber immer faszinierend. Ich studierte klinische Psychologie – erfuhr unendlich viel über unser Handeln, Denken, Fühlen und Begreifen. Für mich war alles äusserst interessant. Psychologie war kein populäres Studium. Aber es kümmerte mich wenig, wenn es etwa hiess: «Verrückt, dass er so etwas studiert!»
Ich durchlief während meines Studium natürlich auch selber eine Therapie, was mir viel Klarheit und Versöhnung mit meinem eigenen Leben gab. Eine Metapher besagt: «Man kann eine Pflanze nicht wachsen machen. Aber man kann Bedingungen schaffen, die sie wachsen lassen – guter Boden, Wärme, Licht, Sonnenlicht.» So lernt man, so strebt man danach, die Bedingungen für mögliches Wachsen zu schaffen. Es geht auch im psychotherapeutischen Prozess darum, für Klienten gute Bedingungen zu schaffen. Die Person selbst muss den Weg gehen, man kann sie nicht dazu zwingen. Jeder Mensch ist einzigartig und hat das Recht auf seinen eigenen Weg. In meiner Tätigkeit war es entscheidend, genau hinzuhören, wonach meine Klienten strebten. Ich nenne mein Gegenüber Klient, nicht Patient. Patient tönt zu passiv, zu hierarchisch. Ich finde, der Austausch muss auf gleicher Ebene stattfinden. 1959 schloss ich mit dem Doktorat ab. Und mein Beruf wurde zu meiner Berufung.
Als Achtzehnjähriger in der Pfadfinderbewegung (Mitte hinten).
An der Universität in Chicago lernte ich Carl Rogers kennen, den weltberühmten Psychologen und Begründer der Humanistischen Psychologie. Ich spürte, seine und meine Denkweise waren sehr ähnlich; ich hatte das Gefühl, einen verwandten Geist gefunden zu haben. Obwohl er war 29 Jahre älter war als ich, arbeiteten wir viel zusammen und wurden gute Freunde. Er lud mich später ein, mit ihm an die Universität Wisconsin zu ziehen und dort weiter zu forschen. Ich entschied mich dann aber, meinen eigenen Weg zu gehen, und nahm einen Ruf hierher an die Denison University in Granville, Ohio, an, in der Doppelfunktion als Fakultätsmitglied und Direktor des Psychologischen Diensts. Rogers war damals sehr einflussreich, und er verhalf mir zu meiner beruflichen Position. Er war zeitlebens mein Mentor und Kollege, und er nominierte mich später sogar für die Akademie der amerikanischen Psychotherapeuten.
Und die Liebe meines Lebens wurde auf Umwegen meine Frau. Marilyn, die Tochter eines Arztes aus Columbus, lernte ich in einer Tanzschule kennen. Sie war vierzehn und ich achtzehn Jahre alt. Wir gingen miteinander aus, dann aber trennten sich unsere Wege. Sie hatte sich später mit einem anderen verlobt. Ihre Mutter war es, die uns nach sieben Jahren wieder zusammenbrachte. Sie ahnte, schwerkrank, wie sie war, dass wir einfach zusammengehörten. Neun Tage nach unserer Hochzeit starb sie an ihrer Krebskrankheit. Marilyn und ich waren seelenverwandt, und ich liebte sie innig. Nach fünf Jahren adoptierten wir zwei Kinder; Barbara kam zu uns, als sie sieben Tage, und Stephen, als er sieben Monate alt war. Und dreieinhalb Jahre später kam Jeffrey zur Welt. Barbara hat einen Master in Pädagogik und arbeitet als Lehrerin für behinderte Kinder, Stephen ist Finanzvorstand in einer internationalen Unternehmung und Jeffrey hat einen Master in Organisationsentwicklung und ist Vizepräsident in einer internationalen Werbeagentur.
Nach Abschluss meiner Studien zogen Marilyn und ich hierher nach Granville Ohio. Es ist ein wundervoller Ort zum Leben und Arbeiten und etwa dreiviertel Stunden von Columbus entfernt. Neben meiner Universitätstätigkeit eröffnete ich eine Privatpraxis und war Berater an der Mental Health Klinik des Bezirks. Ich hatte Glück in meinem Beruf. Ich war einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. An der Denison-Universität, einer Schule, die Leute von weither anzieht und an der Studierende aus mehr als zwanzig Nationen immatrikuliert waren, konnte ich experimentieren und kreativ lehren. Anstatt die üblichen Vorlesungen zu halten, bei der die Studierenden im hinteren Teil des Raums schlafen, arrangierte ich die Sitze im Raum kreisförmig. Das war damals völlig unorthodox. «Veranstaltest du eine Séance, eine spiritistische Sitzung?», wurde ich belächelt. Mir war einfach wichtig, so zu lehren, wie ich es für richtig hielt und wie es für