Ich spürte, hier in Amerika würde ich mein Leben nach meinem Gusto aufbauen können. Und es war mir klar, ein derart grosses Stück Land hätte ich mir in der Schweiz nie und nimmer leisten können. Die Friends machten ihrem Namen alle Ehre, sie waren wirkliche Freunde. Bei ihnen lernte ich von der Pike auf, worauf ich beim Saatgutkauf zu achten hatte, welche Maissorten früh-, welche mittel- und welche spätwüchsig sind, und wie die Felder zu pflegen waren. Für mich war alles ein grosser Schritt damals. Das merkte ich aber erst später. Meine jugendliche Abenteuerlust und meine Unbekümmertheit waren riesig. Und ich dachte mir, wenn es mir nicht gefällt, so verkaufe ich die Farm eben wieder. Im Herbst, bevor ich heim in die Schweiz flog, ackerte ich mein neues Gelände zum ersten Mal um. Ich hatte kein Vieh zu versorgen, die Felder lagen brach und so konnte ich bis im Frühling für drei Monate in die Schweiz reisen.
Trotz Spass an der Arbeit, trotz meiner grossen Begeisterung für Amerika fühlte ich mich irgendwie einsam. Ein «Gschpane», eine Frau und Partnerin fehlte mir. Und da war ja in der Schweiz noch diese junge Frau, die einen Kilometer von mir entfernt in Chur auf einem Bauernhof aufgewachsen war: Gritli (Margrit) Casal. Sechs Jahre jünger als ich, kannte ich sie seit Kindsbeinen. Unsere Freundschaft begann ursprünglich mit meiner Einladung zu einem Ball des Kantonsschul-Turnvereins und wir gingen anschliessend fünf Jahre lang miteinander aus. Als ich nach Amerika reiste, flog Gritli als Aupair nach England. Unsere Wege trennten sich, wir blieben in Briefkontakt.
Als ich ihr aber eines Tages aus den Staaten schrieb, ich hätte eine Farm gekauft und plante, in Amerika zu bleiben, war das für Gritli ein Schlag. Unsere Freundschaft ging auseinander – Amerika war für Gritli kein Thema. Ein Jahr herrschte absolute Funkstille zwischen uns. Ich erinnere mich gut, dass mir Gritli auswich, als ich an Weihnachten 1965 nach Chur heimkehrte. Sie machte extra einen Umweg, um mir nicht begegnen zu müssen. Gegen Ende der Ferien fuhr ich eines Tages mit dem Traktor in Richtung Masans und sah meine alte Freundin zufälligerweise an der Bushaltestelle warten. Ich sehe sie noch vor mir: Wie angewurzelt, völlig perplex stand sie da. Mit mir hatte sie absolut nicht gerechnet. Ich stellte den Motor ab, stieg zu ihr runter und lud sie unbeschwert für den nächsten Abend ein. Wir müssten zusammen reden, sagte ich ihr. Und so begann sie, unsere grosse Love Story. Ich wusste: Gritli oder keine! Wir hatten wunderbare Tage zusammen, bis ich allein und schweren Herzens im März 1966 nach Amerika zurückreiste.
Im Flugzeug über dem Atlantik schrieb ich Gritli, ich wolle nie mehr ohne sie zurück in die neue Heimat reisen. Tränen kullerten mir dabei über die Wangen. Ich weiss noch, der Herr neben mir schaute mich völlig entsetzt an. Gritli war hin und her gerissen: Sie liebte mich, konnte es sich aber nicht vorstellen, die Berge, das Daheim und ihre Eltern in Chur zu verlassen. Sie musste sich entscheiden – denn ich würde definitiv in Amerika bleiben wollen. In jenem Sommer telefonierten wir nur ein einziges Mal und konnten vor Aufregung beide kaum sprechen. Rückblickend muss ich sagen: Es war verrückt von mir, aufs Geratewohl einen Hof zu kaufen. Ich weiss, auch wenn es nicht so gelaufen wäre, wie ich es mir wünschte: Zurückkehren in die Schweiz – das hätte viel gebraucht. Das hätte mein Stolz wohl kaum zugegeben.
Der Sommer wollte und wollte nicht enden – plötzlich waren die Tage unheimlich lang. Bei Gritli wuchs der Entschluss langsam, bis sie schrieb: «Ja, ich bin bereit, dir zu folgen!» Wir begannen, trotz grosser räumlicher Distanz, Hochzeitspläne zu schmieden … obwohl Gritli keine Ahnung hatte, wohin der Weg sie führte. Die Friends luden sie ein, sich vor Ort ein Bild von ihrer neuen Heimat zu machen. Aber meine Geliebte sparte das Geld lieber für die Aussteuer und das Hochzeitskleid. Ich schrieb ihr lange Liebesbriefe und fragte sie, in welchem Farbton sie denn die Zimmer im Haus gestrichen haben möchte. Bald kaufte ich kübelweise Farbe in Offwhite und strich die Wände.
Wenn Gritli Nein gesagt hätte? Es wäre für mich sehr schwer gewesen, aber ich hätte es akzeptieren müssen. Ich wusste, Gritli gab viel auf. Sie war stark mit ihren Eltern verbunden und hatte einen guten Job in Chur. Es ist für uns beide heute noch sehr emotional und nicht leicht darüber zu sprechen, wenn wir an diese schwierige Zeit zurückdenken. Wir hatten beide so Sehnsucht nacheinander.
Dann ging alles sehr schnell: Bei Gritlis Eltern bat ich an Weihnachten 1966 um die Hand ihrer Tochter, an Silvester verlobten wir uns und am 4. März 1967 heirateten wir in Chur. Die Zeit drängte. Ich musste zurück für die Mais-Aussaat. Auf unserer Hochzeitsreise schifften wir uns in Genua auf der «Michelangelo» ein. Mit an Bord die zwei grossen Kisten mit Gritlis Aussteuer – feinste Leinenwäsche und ein Service mit Goldrand. Aber die Schiffsbesatzung streikte, und erst Tage später fuhren wir westwärts. Über dem Atlantik gerieten wir in einen andauernden fürchterlichen Sturm. Die Überfahrt war grauenhaft. Wir waren beide seekrank, bis wir die Freiheitsstatue im Hafen von New York und endlich Land erblickten. Die Qual war bald vergessen, und nach einem kurzen Abstecher nach Manhattan, flogen wir via Chicago nach Decatur. Durch den Streik kamen wir reichlich spät dort an, und ich war im Rückstand mit der Feldarbeit.
Am ersten Tag fuhr ich mit Gritli kurz in die nahegelegene Stadt, zeigte ihr, wo was war – und dann sass ich tagelang nur noch auf dem Traktor. Sie wurde ins kalte Wasser geworfen und musste sich überall alleine zurechtfinden. Aber sie machte es prima. Ich war so stolz auf meine junge Frau. Für mich war «high season». Innert weniger Tage mussten die Felder angesät werden. Gritli liess sich einspannen. Wir waren nun 24 Stunden am Tag zusammen, arbeiteten Hand in Hand, und es ging wunderbar. Oft waren wir schon frühmorgens auf dem Feld und arbeiteten, bis es eindunkelte. Das ist alles andere als selbstverständlich, und ich bin Gritli noch heute sehr dankbar für ihre grosse Hilfe. Bei der ersten gemeinsamen Ernte, im Winter 1967, waren wir an Weihnachten noch dran. Der Herbst war nass, der Boden teilweise unbefahrbar. Am Weihnachtstag droschen wir, und unter den Maiskörnern auf dem Lastwagen glitzerten feine Eiskristalle. Die Trocknungsspesen waren entsprechend saftig!
Jürg und Gritli auf den Traktoren, 1967.
Wir Farmer sind total vom Wetter abhängig. Man versucht das Beste, mit Bodenproben, tüftelt aus, welches das beste Saatgut, die ideale Unkraut- und Schädlingsbekämpfung ist – aber auf das Wetter haben wir keinen Einfluss. Das war für mich am Anfang eine grosse und unbekannte Belastung. Wohl hatten wir ein Darlehen von der Graubündner Kantonalbank und gaben den Hof daheim als Sicherheit. Aber sicher waren wir uns nicht, ob wir es schaffen würden. Ich sagte mir immer wieder: einfach nicht die Nerven verlieren! Auf Regen kann man nur hoffen. So wie dieses Jahr, wo seit Monaten Dürre herrscht, oder wie 1988, als es den ganzen Sommer lang kaum einen Tropfen Regen gab, und wir nur noch hoffen und beten konnten! Wasser ist das Wichtigste für die Maiskulturen – und wenn es nicht regnet, nützt alles nichts – «no rain, no grain!»
Seit jenem ersten Frühling haben wir zusammen über fünfunddreissig Jahre lang gemeinsam die Farm bewirtschaftet. Sie hat «traktörlet» und ist Lastwagen gefahren, ich habe gesät und geerntet – stunden- und tagelang. Zu Beginn hatten wir 133 Hektar, später bis 304 Hektar Ackerland, und immer nur zu zweit bewirtschaftet – gut mechanisiert, aber ohne Angestellte. Die ersten dreizehn Jahre bauten wir auf unseren Feldern ausschliesslich Mais an. Bis wir uns wegen besserer Arbeitsverteilung und der Fruchtfolge entschlossen, Sojabohnen dazu zu nehmen. In einem grossen Umkreis bauen hier alle Mais und Soja an. Mais verkauft sich sehr gut; der Grossteil geht an die Tierfütterung, ein Teil wird Treibstoff – Ethanol –, und der Rest geht in den Export oder wird Fructosesirup. In unserer Nähe steht eine der grössten Fabriken zur Herstellung von Ethanol –, die Archer Daniel Midland Company (ADM). Mit Erträgen von ungefähr 1400 Tonnen haben wir angefangen, heute produzieren wir rund 5580 Tonnen Futtermais und circa 1060 Tonnen Sojabohnen im Jahr.
Schweizer Landsleute wohnen keine in unmittelbarer Nähe, und einen Schweizer Club gibt es in der Gegend auch nicht. Unsere Schweizer Freunde leben in Peoria, rund anderthalb Stunden von hier. Verlassen fühlen wir uns hier draussen auf der Farm nicht. Wir haben ja Nachbarn, die sind auch Bauern. Wir Farmer haben untereinander ein sehr kollegiales Verhältnis. Man unterstützt und