Nun sind wir alle zu unserem Leidwesen noch nicht völlig aus dem Traum erwacht. Insoweit mag die Parabel von dem Widerstand des Menschen gegen das, was ist, und von seinem selbstgeschaffenen Fatum eines vergeblichen und andauernden Mühens, welches der Mythos des Sisyphos uns erzählt, auch für uns zutreffen. Sodass es hier für uns durchaus noch etwas zu lernen gibt – sind wir ja den früheren Generationen in unserem Fühlen, Denken und Verhalten nicht so unähnlich, wie wir meinen.
König Sisyphos, so geht die Erzählung, war so stark wie zwei Männer, und er war sehr schlau. Sein Name selbst bedeutet »der Schlaue«, und es gelang ihm dank seiner Intelligenz wie gesagt mehrmals, den Gott Thanatos zu überlisten und so sein Sterben hinauszuzögern. Und selbst aus dem Hades entfloh er durch einen Trick. Thanatos klagte ihn daraufhin bei den Göttern an; und weil er sich mit seinem Handeln dem göttlichen Gesetz (der Vergänglichkeit) widersetzt hatte, wurde er dazu verdammt, im Schattenreich, im Hades, eine sinnlose Handlung immer wieder aufs Neue zu wiederholen.
Homer erzählt im elften Gesang der Odyssee, wie Odysseus ihn und viele andere Verstorbene sah, nachdem er den Schatten des Jenseits ein großes Totenopfer dargebracht hatte und ihm Einblick gewährt wurde in das unterirdische Reich der Toten: »Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert einen schweren Felsen mit großer Kraft bewegen. Er stemmt sich dagegen und müht sich mit Händen und Füßen, ihn vom Talgrund den Berg hinauf zu wälzen. Doch hat er ihn auf dem Gipfel, da entfällt ihm die Last, und hurtig, mit Donnergepolter, entrollt ihm der tückische Stein. Und von vorne arbeitet er, stemmt sich dagegen, dass der Angstschweiß seinen Gliedern entströmt und Staub sein Antlitz umwölkt.«
Hier ist für eine dem Geist der griechischen Antike angemessene Deutung anzumerken, dass für das philosophische und aristokratische Denken dieser Zeit arbeiten müssen und Handel treiben kein Privileg oder der »Edelheit« des Menschen angemessener Zustand, sondern eher die Folge eines Verlusts unserer ursprünglichen Unschuld, Bedürfnislosigkeit und Freiheit war. Die unsterblichen Götter selbst genießen, von allem Irdischen, von aller Tätigkeit, Notwendigkeit und Zeit entbunden, ein erhabenes Glück und ewige Ruhe. So hatten die Griechen auch zwei Worte für Zeit. »Kairos« bezeichnete die »göttliche Zeit oder den ewigen Augenblick«, das Gegenwartsbewusstsein – und »Kronos« die profane, säkulare, sequenzielle Zeit des menschlichen Denkens und Ermessens.
Die Moral der Sisyphos-Erzählung impliziert ein Verständnis von Arbeit, das mit dem in der biblischen Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies vergleichbar ist. Dort heißt es nach der Übertretung des göttlichen Gebots, »nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen«: »… und im Schweiße eures Angesichts sollt ihr ab jetzt euer Brot verdienen!« Und damit sind wir beim Fall in den Modus eines dualistischen Erkennens und der daraus folgenden Exilierung aus dem Paradies, aus einer reinen, unschuldigen und leidlosen Schau.
Die Paradieserzählung entspricht dem Mythos von einem goldenen Zeitalter, der sich zum Beispiel auch im Taoismus, Hinduismus und Buddhismus findet. Im Mahabarata wird vom »Satya-Yuga«, vom »Äon der Wahrheit« erzählt – Hesiod sprach vom chrýseon génos oder dem »Goldenen Geschlecht« und die römischen Dichter Vergil und Ovid vom aurea aetas.
Nach diesem ersten Äon der Unschuld folgen drei weitere, die nach Metallen von geringerem Wert benannt sind, weil in ihrem Verlauf gleichzeitig mit einer Zunahme weltlicher Wünsche und Arbeiten eine Abnahme der Tugenden und des Friedens und ein zunehmender moralischer Verfall einhergeht, bis schließlich im eisernen Zeitalter ein eigensüchtiges, diskursives Denken und destruktive Emotionen wie unstillbares Verlangen und viele Ängste die Menschen beherrschen, welche folglich ständige Unruhezustände, Kriege, Unzufriedenheit und vielerlei Leiden erzeugen und erdulden müssen. Tröstlich zu wissen, dass, auf dem großen Rad der Zeit, nach den Zerstörungen und Kataklysmen am Ende eines ehernen Äons immer wieder ein neuer Anfang, ein neues goldenes Zeitalter kommt.
Ein Neubeginn ist dann wieder für die Menschheit möglich. So wie der Einzelne als neugeborener Säugling die Spuren seiner früheren Erfahrungen zwar in sich trägt, doch sich an diese weder erinnert noch seine früheren »Besitztümer, Errungenschaften, Erfindungen und Geräte« im Außen seines neuen Lebens wiederfindet, kann auch die Menschheit, auf der durch ein Diluvium gereinigten Erde, von dieser Position einer anfänglichen, unbewussten Unschuld aus einen neuen Anfang machen.
Es ist der Sage nach nicht das erste Mal, dass sich eine Menschheit durch ihre eigenen hochentwickelten »technischen Errungenschaften« und wegen ihrer unterentwickelten Vernunft, Weisheit und Empathie, schließlich selbst zugrunde gerichtet hat.
Am goldenen Beginn der vier Zeitalter, so heißt es, hatten die Menschen noch keine überflüssigen Gedanken, und sie mussten keinerlei Nahrung zu sich nehmen. Ihre Körper waren Körper aus Licht, es gab keine Leiden, und ihre Lebensdauer betrug über zehntausend Jahre. Ein Äon später dann begannen sie, eine von selbst erscheinende, nährende Substanz zu sich zu nehmen, ähnlich dem göttlichen Nektar, Amrita oder Manna; und da sie eine Anhaftung an diese Speise entwickelten, vergröberten sich ihre Körper und ihre geistigen Sinne mit der Zeit. Langsam entstand ein diskursives Denkbewusstsein in ihnen, und sie verloren dadurch ihre intuitiven Fähigkeiten. Im nächsten Äon entwickelten sich Geschlechtsorgane und ein Verdauungssystem, und die Lebenszeit verkürzte sich weiter.
Schließlich mussten sie selbst grobstoffliche Nahrung, wie Getreide anbauen und zu sich nehmen, um leben zu können, und ihre Wünsche wurden mehr. Die Lebenszeit sinkt im eisernen Zeitalter auf hundert Jahre. Die Menschen erfinden Waffen, töten sich damit gegenseitig, und sie töten Tiere, um von ihrem Fleisch zu leben. Selbstsucht und gehirnliche Denkfähigkeit entwickeln sich, und der Anspruch, etwas allein zu besitzen, wird mit der Waffe und als das »Recht des Stärkeren« verteidigt.
Akzelerierend dominiert schließlich ein ständiges Denken, Wünschen und Handeln, ein fortwährendes Erfinden, Erwerben und Wegwerfen, Bauen und Wiederzerstören im »Menschheitstraum« dieser ehernen Zeit; und immer unruhig, strebend und arbeitend, müht sich der listenreiche Mensch, sich die Welt untertan zu machen und die äußere Natur zu unterwerfen und zu »verbessern«.
Die Lehre von den vier Zeitaltern erzählt vom Urzustand des Menschen als Zustand der Vollendung und Zufriedenheit und von seiner »Evolution« als Degeneration, als stufenweiser Verfall und Verlust seiner höheren Fähigkeiten und Tugenden. Das heißt, sie stellt dar, wie der Mensch im Außen suchend und immer weiter fortschreitend zwar vieles findet und sich aneignet, sich selbst und seine Einheit mit der Natur dabei aber immer mehr vergisst und, von selbstgeschaffenen Ketten und Zwängen gebunden, in heilloser, destruktiver Tätigkeit am Ende sogar die Welt und damit die Grundlage seiner physischen Existenz und die seiner Kinder zerstört.
Die Hybris des menschlichen Strebens, angetrieben von Begehrlichkeit und gestützt von einem listigen, aber kurzsichtigen Verstand, war den lebensweisen Menschen der Antike so sehr bewusst, dass sie deren unheilsame Folgen in Parabeln wie in der des Ikaros, des Prometheus, des Sisyphos und des Tantalos darstellten und als ein Caveat in ihre volkstümlichen Erzählungen flochten. So konnte man sich ihrer, als eines abschreckenden Beispiels, immer wieder erinnern und eine gute Lehre daraus ziehen. Über die Dummheit des Königs Midas machte man sich gern lustig, welcher einen Wunsch frei hatte und sich in seiner Besitzgier wünschte, dass alles, was er berühre, zu Gold werden möge – und dann erst erkannte, dass man Gold nicht essen kann.
Vergeblich und eitel, Vanitas ist das Sichmühen des Menschen, der Glück und Erfüllung in vergänglichen Dingen sucht und der wie Sisyphos, gleichzeitig die Vergänglichkeit, das göttliche Gesetz