Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens. Yungdrung Wangden Kreuzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yungdrung Wangden Kreuzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813464
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Niemand kann dir schaden, denn Leerheit und Offenheit ist deine wirkliche Natur, und diese Leerheit und Offenheit ist dein bester Schutz.« So lehrt Padmasambhava im sogenannten Tibetischen Totenbuch, das recht eigentlich ein Buch der höchsten Lebensweisheit ist. Seine In­struktionen sind in allen Erlebnisformen des Geistes gleichermaßen gültig und befreiend, denn alles, was erfahrbar ist, das ist wandelbar, ist leere Vision. Und ob sie uns bindet oder nicht, liegt im Grunde ganz bei uns. Wenn wir glauben, dass etwas existiert, dann ist es für uns wirklich und wirksam.

      Wenn wir an etwas festhalten und darauf bestehen, kann niemand es uns nehmen. Wenn wir es loslassen, kann niemand es mehr halten und darauf bestehen.

      Nun ist eine andere, durchaus förderliche Art mit dieser Unzufriedenheit, mit diesem nagenden Zweifel, mit dieser Fragwürdigkeit von allem umzugehen, sie nicht zu fliehen, sondern sie anzunehmen und eins zu werden mit der Sinnfrage. Damit fliehen wir nicht mehr vor unserem höheren Selbst und kreisen an der Peripherie gedanklich um uns selbst, mit einem oberflächlichen, unbewussten Spiel von Frage und Antwort beschäftigt. Sondern uns selbst und alles bereitwillig infrage stellend, können wir uns dem zentrifugalen Sog einer objekt- und antwortlosen Kognitivität hingeben, einem Feuer reinen Erkennens, das alle Gegenstände zerstört und alle Projektionen in seine Quelle, in das gestaltlose Licht des Geistes zurückführt.

      Uns selbst infrage zu stellen mit den Worten »Wer bin ich?« lockert den Knoten des »Selbstbilds«, befreit uns von einschränkenden Kon­strukten und falschen Sicherheiten und führt uns direkt zurück zum reinen Gewahrsein, zu unserem wahren, selbstlosen Selbst zurück. Dieser Weg zur Verwirklichung und Luzidität ist nichts Neues und auch keine Theorie unter vielen. Es ist der Weg, der aus der unbewussten, instinktiven Projektion direkt zurück zum Projektor führt.

      Bleibt unser Blick nach außen gerichtet, so hat unser Suchen und Forschen kein Ende, denn das Licht erschafft immer neue Träume, beleuchtet immer neue Gegenstände. Nur wenn wir das Licht der Aufmerksamkeit zurückwenden auf uns selbst, entdecken wir den Schöpfer aller Dinge, und all unser Suchen ist zu Ende.

      Der Ursprung des Universums ist nicht außen, die Welt entsteht hier in diesem Augenblick im eigenen Geist, und wie es in der Tabula ­Smaragdina heißt, ist alles eins, und durch das Denken des einen ist alles entstanden.

      Buddha hat diesen Weg der Selbsterkenntnis durch Selbsterforschung selbst beschritten und nach seiner Erleuchtung gelehrt, welcher uns das eigene Selbst als leer, als ichlos und frei von jeder Form erkennen lässt. Zahllose Wesen haben auf ihm bereits völlige Erleuchtung und Befreiung vom Leid verwirklicht.

      Im Anenjasappāya-Sutta heißt es: »Die edle Befreiung ist das Aufhören von Verlangen und Anhaftung. Diese ist frei vom Tod – sie ist die Befreiung des Geistes durch Nicht-Anhaften.« Wenn man die unterbewussten Tendenzen, die zur falschen Annahme eines Ichs verleiten, völlig auflöst – also alle und jegliche Konzepte des »Ich bin« –, dann gibt es auch »niemanden« mehr, der sterben könnte. Dieses Aufhören der »Ströme des begrifflichen Nachdenkens« über das eigene, vorgestellte Ich und der daraus resultierende Friede, der leer ist von Geburt, von Alter und Tod, wird vom Buddha im Dhatuvibhanga-Sutta erklärt:

      »Zur Ruhe ist einer gekommen, wenn die Wellen konzeptuellen Denkens sich gelegt haben; und wenn dieses begriffliche Denken in ihm aufgehört hat, wird einer ein Weiser genannt, der Frieden gefunden hat. Warum hat dieser Frieden gefunden, und von was ist er frei? Ihr Mönche – ein solcher ist frei von der Vorstellung ›Ich bin‹, er ist frei von der Vorstellung ›Ich werde sein‹, er ist frei von der Vorstellung ›Ich werde nicht sein‹. Er ist frei von der Vorstellung ›Ich werde eine Form haben‹, ›Ich werde formlos sein‹, ›Ich werde wahrnehmen‹, ›Ich werde nichts mehr wahrnehmen‹, ›Ich werde weder etwas wahrnehmen noch nichts wahrnehmen‹ – denn auch das ist eine Vorstellung. Vorstellung ist eine Krankheit, Vorstellung ist wie ein Cancer, Vorstellung ist wie ein Pfeil, der verwundet. Wenn ein Mensch jenseits allen Vorstellens und begrifflichen Erfassens geht, so wird er zu einem Weisen, der Frieden erlangt hat. Ein solcher Weiser im Frieden wird weder geboren, noch altert er, noch stirbt er.

      Er wird von nichts beunruhigt und er ist frei von Verlangen. Deshalb hat er keine Ursache, keinen Beweggrund, geboren zu werden.

      Weil er nicht geboren wird, wie könnte er altern? Weil er nicht altert, wie könnte er sterben?

      Nicht sterbend, unsterblich, was könnte ihn beunruhigen? Von nichts beunruhigt – wie könnte Verlangen in ihm entstehen?«

      Hier zeigt der Buddha auf den Geisteszustand eines Menschen, der endgültigen Frieden erlangt hat. Und wir können daran ablesen, ob wir selbst für solchen Frieden schon bereit wären oder wo und wie wir noch an Vorstellungen und Dingen festhalten und unsere Unruhe damit selbst bewirken.

      Hinter der Maske unserer sterblichen »Persona« steht der, der durch sie hindurchschaut, durch sie hindurchspricht, der, der sie tragen oder fallen lassen kann. Denn das kleine Selbst ist nichts als die Gestalt und Vorstellung, die wir von uns selbst haben, und es definiert sich durch die verschiedenen Rollen, die wir im Leben spielen. Wenn wir an diesen festhalten, erleben wir uns als sterblich und als beunruhigt – wenn wir sie loslassen, als unsterblich und in Frieden.

      Nun wird diese falsche Identifikation mit unserer Person oder den fünf Skhandas vor allem durch ihre Vergänglichkeit und durch den Tod immer wieder heilsam infrage gestellt. Der große Zen-Meister Hakuin Zenji empfahl seinen Schülern deshalb: »Heftet dieses eine Wort ›Tod‹ zwischen eure Augenbrauen, und behaltet es Tag und Nacht im Sinn. Egal, ob ihr steht, sitzt oder liegt, fragt euch ständig: ›Was bin ich, wenn mein Körper tot und verbrannt ist?‹«

      »Was bleibt von mir, was bleibt von diesem Leben?«, so fragt sich wohl jeder, der mit seinem baldigen Tod konfrontiert ist und damit, Abschied nehmen zu müssen. Hakuin empfiehlt uns, auch diese Frage nicht zu verdrängen, sondern direkt in sie hineinzugehen und völlig eins mit ihr zu werden. Er schreibt weiter: »Diese Frage wird euch als Schlüssel zu jener Dimension dienen, wo ihr frei von Geburt und Tod seid und wo ihr, wie der unzerstörbare Diamant, nicht alternd und niemals sterbend euer ungeborenes, unsterbliches Vajra-Wesen erkennt.«

      Damit wirklich ein tiefer Wunsch in uns entsteht zu praktizieren, um den instinktiven Kreislauf des Denkens und damit den zwanghaften Kreislauf vom Geborenwerden und vom Sterbenmüssen zu überschreiten, müssen wir die vergängliche Natur des Lebens wirklich an uns heranlassen und realisieren, dass der Freund, dem wir gestern noch die Hand geschüttelt haben, vielleicht morgen schon tot ist – wie viele andere unserer Bekannten auch – und dass es für uns selbst natürlich nicht anders ist, insofern es keinerlei echte Garantie gibt, nur eine eingebildete und erhoffte, dass wir selbst noch lange leben werden.

      Die Augenblicke, in denen wir angerührt sind vom Tod und uns die eigene Sterblichkeit bewusst wird, sind ein kostbarer Stimulus, um das Ausmaß unserer Anhaftung an banale Zerstreuungen und Zeitvertreibe zu erkennen und infrage zu stellen. Die Geistesschulung, egal, ob christlich, hinduistisch oder buddhistisch, verlangt von den Übenden, aller verdrängten Ängste und Anhaftungen, aller Gedanken und Gefühle durch die fortgesetzte Pflege von Geistesruhe, Wachheit und Selbstbeobachtung gewahr zu werden. Wenn wir sie direkt anschauen, können wir sie als das erkennen, was sie sind, und uns von unheilsamen karmischen Spuren und Gewohnheitstendenzen reinigen.

      Alles Unbewusste kann, wie sonst nur post mortem möglich, bereits jetzt hervorkommen und jede Erfahrung, ob als Freude oder als Leid empfunden, wird uns zum Brennstoff, um das heilige Feuer des reinen Gewahrseins zu nähren.

      Wenn wir lernen, allen Erfahrungen mit Gleichmut zu begegnen, ohne das eine festzuhalten und das andere zu verdrängen, erkennen wir deutlicher die wahre Natur aller Erscheinungen als die Untrennbarkeit von Form und Leere. Alle Phänomene sind gleichermaßen reine Energie – der Stoff, aus dem alle Träume sind, und schön und hässlich, angenehm und unangenehm sind nur Zuschreibungen gewesen, die der unterscheidende Verstand sich selbst gemacht hat.

      Betrachten wir sie frei vom begrifflichen Denken, haben alle Dinge, scheinbar so verschieden, denselben Sinn und denselben Geschmack von Klarheit, Seligkeit und Leerheit. Es ist der Geschmack der unbegrenzten, undefinierbaren Freiheit aller Dinge und des