Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens. Yungdrung Wangden Kreuzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yungdrung Wangden Kreuzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813464
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ganz natürlich dorthin, wo sein Herz ist und wohin sein Sinnen geht.

      »Mensch, in das, was du liebst, wirst du verwandelt werden, Gott wirst du, liebst du Gott, und Erde, liebst du Erden«, heißt es im ­Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius. Unser künftiges Schicksal wird ganz natürlich den Neigungen entsprechen, die wir am meisten kultiviert haben. Sogenannte Wunderkinder wie Mozart sind der Beweis dafür. Ihre besondere Fähigkeit ist kein Zufall, sondern die Frucht ihrer früheren Übung und Meisterschaft im Feld der Musik, der Mathematik, der Meditation und so weiter.

      Die meisten von uns finden es selbstverständlich, als Mensch geboren zu sein; und selbst wenn wir an Wiedergeburt glauben, nehmen wir automatisch an, als Mensch reinkarniert zu werden. Doch tatsächlich ist beides nicht selbstverständlich, und wir wissen normalerweise nicht, wohin wir nach dem Tod als Nächstes gehen werden.

      In unserem Unterbewusstsein schlummern die Spuren zahlloser früherer Erfahrungen, Handlungen, Wünsche und Gewohnheitsmuster, die in vielen Leben angesammelt wurden – Kraut und Unkraut, Heilsames und Unheilsames, Heilendes und Giftiges, Tierisches, Menschliches, Göttliches und Teuflisches schlummern in uns, und diese Spuren unzähliger Existenzen warten wie Samen in der Erde darauf, sich auszuwirken, wenn geeignete sekundäre Ursachen wie Sonne und Wasser oder äußere Ereignisse im Wachen oder auch nur Visionen wie im Traum oder im Postmortem hinzukommen.

      Erfahrung kommt uns von außen entgegen, und wir reagieren darauf spontan mit all dem, was bereits in uns ist. Wir nehmen es unserem Charakter und unseren Konditionierungen entsprechend wahr, und wir reagieren demgemäß. Wir sehen etwas, was uns gefällt, und wir wollen es haben. Wir besitzen etwas und wollen es behalten. Wir hängen eifersüchtig daran; und will es uns jemand nehmen, so entsteht Hass, und im schlimmsten Fall schlagen oder töten wir den Rivalen und die geliebte Frau, welche uns betrogen hat oder verlassen will. Oder wir sehen etwas Furchterregendes, haben Angst und fliehen. Unsere Reaktionen kommen spontan und instinktiv aus dem Unterbewusstsein; und wenn wir fast in einen Abgrund stürzen, so fühlen wir auch im Traum die Todesangst im Bauch. Im Wachen und im Träumen reagieren wir unserem persönlichen Charakter entsprechend auf Erfahrung oder Vision, und normalerweise, also ohne vorherige Übung der Meditation, haben wir über unsere Gedanken ebenso wenig Kontrolle wie über unseren Traum.

      Deswegen ist es mit dem Sterben ähnlich wie mit dem Schlaf – dem kleinen Bruder des Todes –: Wir legen uns hin, aber wir wissen nicht, was wir im Traum erleben und denken werden; und die Chance, dass wir das, was wir träumen, als unsere eigene Vision, als unsere eigenen Gedanken erkennen, ist äußerst gering, es sei denn, wir haben die Fähigkeit der Luzidität im Traum entwickelt. Einer kürzlich durchgeführten Befragung zufolge erinnern sich die meisten Menschen einmal pro Woche an einen Traum, und luzide Träume sind ein äußerst seltenes Erlebnis.

      Nun ist aus der Traumforschung gut bekannt, dass jeder, der sich darum bemüht und es sich fest vornimmt, sich immer häufiger und lückenloser an seine Träume erinnern und im luziden Bewusstsein, dass er gerade träumt, erfahren kann. Wenn Luzidität den Traumzustand durchdringt, weiß man, dass das Erlebte keine eigenständige Wirklichkeit hat und dass es eigentlich ganz von uns abhängt, was wir erleben. Mit dieser Erkenntnis erlangen wir potenziell die Freiheit, den Trauminhalt spielerisch zu verändern; und mit präziser und konsequent fortgeführter Übung kann man im Traumzustand dieselbe Luzidität und Willensfreiheit erlangen wie im Wachzustand.

      Wenn uns dies gelingt, haben wir viel erreicht und können unsere spirituelle Praxis dann auch im Schlaf fortsetzen.

      Wir können uns zum Beispiel bewusst dafür entscheiden, in einen höheren Seinsbereich, in ein sogenanntes Buddha-Land, zu gehen und dort Belehrungen zu hören – wir können mit unserem Traumkörper auch andere Orte auf dieser »materiellen« Welt besuchen und wahrnehmen, was dort geschieht. Oder wir können stabil in klarem und leerem Gewahrsein ruhen und einfach erscheinen lassen, was erscheint, und all das im wortlosen Verstehen, dass es der eigene Traum, dass es Selbsterfahrung ist. Wir können damit also auch unsere Dzogchen-Praxis von Trekchö und Thögäl im Schlaf fortsetzen und entwickeln.

      Am Beispiel der Luzidität im Traum können wir Wesentliches über unser Menschsein lernen, nämlich erstens, dass wir zwar mit luzidem Gewahrsein begabt sind, dieses momentan aber sehr beschränkt ist. Zweitens, dass Luzidität kultiviert werden und auch die unbewussten Schichten unseres Erlebens durchdringen kann. Drittens, dass dadurch das imaginäre, durch Unbewusstheit erzeugte und fortbestehende Leiden und die Störgefühle im Traum aufgelöst werden können. Und viertens, dass wir durch das Erkennen der wahren Natur unserer Erfahrungen als Traum oder Selbsterscheinung schließlich vollkommen frei werden können. Frei von Unwissenheit, frei von Gedanken, frei vom Haften an etwas und frei von Aversion gegen etwas und damit frei von Geburt und Tod.

      Fünftens – so können wir ebenfalls aus dem Obigen verstehen – kommt diese erhöhte gesteigerte Luzidität nicht von selbst, sondern muss kultiviert werden. Bemühen wir uns nicht darum, so werden die in unserem Unterbewusstsein eingelagerten Spuren, werden Unwissenheit, Gewohnheitsmuster, dualistische Gedanken und Störgefühle weiterhin sowohl unsere Träume wie auch unsere emotionale Reaktion auf sie bestimmen.

      Falls jemand noch nach dem tieferen Sinn seines Lebens, seine wahre Lebensaufgabe, den direkten Weg zur Erleuchtung oder eine sinnvolle Beschäftigung für die Jahre seines Ruhestands sucht – er findet all das in der Kultivierung der Luzidität, in der Entfaltung des Erleuchtungsgeistes.

      Padmasambhava, der Autor des Tibetischen Totenbuchs, lehrt den Kernpunkt der Praxis des tibetischen Traum-Yoga, wenn er sagt: »Befreie dich davon, das, was dir begegnet, durch den Schleier deiner karmischen Konditionierungen zu sehen. Sieh es stattdessen als rein, vollkommen und von der Natur des Lichts. Übe dich darin, all deine Erfahrungen tagsüber als einen Traum, als illusionär zu sehen. Komm zu einer durchdringenden Luzidität, indem du dich immer wieder daran erinnerst, dass deine ganze Umgebung, die Stadt, in der du lebst, deine Wohnung, deine Mitmenschen und all deine Unterhaltungen mit ihnen Traum sind. Alles, was du tust, all deine Handlungen von Körper, Rede und Geist sind Traumhandlungen. Sag deshalb oft zu dir selbst: ›Das ist ein Traum.‹ Und manchmal sag es auch laut, oder schrei dich selbst an. Am Abend, wenn du dich schlafen legst, nimm dir fest vor: ›Zum Wohl aller Wesen will ich Erleuchtung erlangen und mich heute Nacht darin üben, den Traum als Traum zu erkennen und zu meistern.‹ Wenn du dich so darin übst, all deine Erfahrungen als illusionär und als Traum zu sehen, wird diese Luzidität auch im Nachtodzustand weiterwirken, denn auch dieser ist von traumgleicher Natur. Wenn es dir gelingt, siebenmal in einer Nacht im Traum luzide zu werden, so wirst du ohne Zweifel auch die Visionen des Postmortem als illusionär erkennen und damit Befreiung finden.«

      Vom Status quo unserer normal eingeschränkten Luzidität und geistigen Unruhe ausgehend, besteht also der Weg zur Erleuchtung oder vollen Luzidität darin, uns in der reinen Sichtweise zu üben, die ohne Konzepte die Reinheit schaut und gleichzeitig die illusionäre Natur und Leerheit der Wesen und der Dinge klar erkennt. Hierzu ist es zuerst nötig, den eigenen Geist zu zähmen und zur Ruhe kommen zu lassen und verstärkt darauf zu achten, möglichst nur heilsam zu denken, zu reden und zu handeln.

      Alle relativen, das heißt mit Konzepten verbundenen Übungen wie der Saatgedanke »Wer ist es, der das alles träumt?« und häufig wiederholte Affirmationen oder Wunschgebete wie »Mögen alle Wesen glücklich sein« haben den Zweck, so starke heilsame Tendenzen und Gewohnheitsmuster im Geist zu erzeugen, dass diese schließlich sogar im Traum weiterwirken und dessen Wahrnehmung, Inhalt und Richtung bestimmen.

      Wenn wir nur noch positive Träume haben, die häufig luzide sind und im Wachzustand kaum mehr Störgefühle erfahren, so ist dies das einzig sichere Zeichen, dass unser Üben wirklich in die Tiefe gedrungen ist und dass die positiven Tendenzen in uns oder das »Bodhicitta«, der luzide Geist von Weisheit, Achtsamkeit und Mitgefühl, nun in unserem Erleben im Wachen und Schlafen vorherrschend geworden sind. Damit ist schon viel vom großen Werk erreicht, und wir haben, was die relative Wirklichkeit betrifft,